In Kriens gerät die Welt aus den Fugen - im schweizweit einzigen Führungssimulator der Armee

Was, wenn eine Flüchtlingswelle die Schweiz erfasst? Wenn die Erde bebt? Wenn der Feind einmarschiert? Solche Szenarien trainiert die Armeespitze im schweizweit einzigen Führungssimulator in Kriens. Ein Besuch im Reich von Oberst Philipp Bühler.

Kilian Küttel
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Einblick in ein Krisenszenario im Führungssimulator der Schweizer Armee in Kriens. (Bild: Eveline Beerkircher (4. Juli 2018))

Einblick in ein Krisenszenario im Führungssimulator der Schweizer Armee in Kriens. (Bild: Eveline Beerkircher (4. Juli 2018))

Unvermittelt geht die Tür auf. Sofort drehen sich die Köpfe nach rechts, blicken zum Eingang, wo soeben Philipp Bühler eingetreten ist. «Morge mitenand», ruft der Oberst im Generalstab. Der Kommandant unterbricht eine Übungsbesprechung, die in vollem Gange ist und der etwa 40 Studenten der Militärakademie der ETH gebannt zuhören. Die angehenden Berufsoffiziere waren Anfang Juli in Kriens einquartiert, wo sie im Führungssimulator der Schweizer Armee trainieren.

Philipp Bühler fällt dem Instruktor ins Wort: «Wir haben heute die Zeitung zu Gast. Jetzt wird die Fotografin einige Bilder machen. Wer nicht abgelichtet werden will, soll sich bitte in die hinteren Reihen setzen», sagt der 54-Jährige mit der Bestimmtheit einer Person, die es sich gewohnt ist, Befehle zu geben. Seit 30 Jahren ist der Stadtluzerner Berufsmilitär. Das sieht man ihm an: strammes Auftreten, sehr kurzes, grau meliertes Haar, Brille, gepflegter Bart. Vor sechs Jahren hat Bühler die Leitung des Führungssimulators in der Generalstabsschule der Schweizer Armee in Kriens übernommen. Seither ist er quasi König in seinem Reich.

30000 Ausgebildete seit 1995

Das Areal liegt mitten im Wohnquartier, direkt neben der Autobahn, und sieht von aussen aus wie ein x-beliebiger Militärbetrieb, wie es ihn etliche Male in der Schweiz gibt. Aber er ist es nicht: In Kriens steht seit 1995 der einzige Führungssimulator der Schweiz. Hier trainieren die Stäbe und militärischen Kommandanten, was sie zu tun haben, wenn die Welt aus den Fugen gerät. Hier nehmen jene Befehle entgegen, die sonst den Ton angeben. 15 Simulationen werden jährlich veranstaltet, gut 100 Personen nehmen jeweils daran teil. Mit etwa 30000 Ausgebildeten seit 1995 rühmt sich die Armee.

Doch was passiert genau? Bühler orientiert: «Die Truppenverantwortlichen nennen uns ein Szenario, das sie beüben wollen. Daraufhin entwickeln wir ein Drehbuch, das den Wünschen entspricht.» Dann nennt er ein fiktives Beispiel: In einem Nachbarland der Schweiz kommt es zu Spannungen zwischen der Regierung und der Opposition, eine Rebellentruppe bildet sich, der Bürgerkrieg bricht aus. Tausende Flüchtlinge strömen ins Land. Gleichzeitig schwappt der Konflikt auch über die Grenzen. Anhänger beider Parteien gehen aufeinander los, es gibt Demonstrationen, Scharmützel, schliesslich einen Brandanschlag auf die Botschaft des Nachbarlandes in der Schweiz. Die zivilen Organe, Kantone und Polizei sind überfordert, der Bund schaltet die Armee ein: Ernstfall.

Das ist das Drehbuch. Nun müssen die Trainierenden, wie sie Bühler nennt, schauen, wie sie mit der Situation umgehen. Welche Truppenverbände müssen also ausgelöst, wohin müssen sie verschoben werden? Und: Was sollen diese tun? Im Fall der angehenden Berufsoffiziere steht ein gegnerischer Angriff unmittelbar bevor. Ihre beiden imaginären Panzer-Bataillone befinden sich im Raum Luzern – eines in der Nähe von Hitzkirch, das andere ist im Entlebuch stationiert.

«Wir können es schneien lassen. Wir können die Strassen vereisen, eine Lawine oder ein Erdbeben auslösen, einen Flugzeug- oder Helikopterabsturz simulieren.»

Von der Zentrale aus dirigieren die Offiziere nun ihre Verbände, koordinieren, dass alle Panzer zur rechten Zeit am rechten Ort und einsatzbereit sind. Der Simulator erledigt den Rest: An einer grossen Leinwand in einem anderen Gebäude sind die Truppenverbände zu sehen, markiert mit kleinen Rechtecken. Linien und markierte Flächen zeigen, wie sich die Truppen bewegt haben, wie die Route weiterläuft. Alles ist strikt geordnet, alles hat seine Richtigkeit. Bei Bedarf ändert die Einsatzleitung die Parameter und die äusseren Einflüsse. So kann sie zum Beispiel bestimmen, ob den Truppen die Bevölkerung freundlich gesinnt ist oder aggressiv reagiert.

Die Möglichkeiten reichen weit: «Wir können es schneien lassen. Wir können die Strassen vereisen, eine Lawine oder ein Erdbeben auslösen, einen Flugzeug- oder Helikopterabsturz simulieren», sagt Bühler. Sie können die Welt untergehen lassen – alles imaginär natürlich, wie in einem Videospiel. Auf die Veränderungen müssen die Offiziere trotzdem reagieren – und sei es nur, wenn sie den Befehl ausgeben, dass die Mannschaftsfahrzeuge die Schneeketten montieren sollen. Der Name ist Programm: Im Führungssimulator wird simuliert, wie man seine Leute zu führen, seine Mittel richtig einzusetzen hat.

Unternehmen wollen im Simulator trainieren

Wenn der Kommandant von seinem Simulator spricht, spricht der Stolz aus ihm. «Was wir hier haben, ist einzigartig. Besucher aus der Privatwirtschaft oder von Armeen anderer Länder sind jeweils sehr erstaunt.» Auch heute sind Vertreter anderer Streitkräfte anwesend, sie kommen aus Deutschland, Österreich und Südkorea. Der Austausch mit dem Ausland sei sehr wichtig, ebenso wie jener mit den privaten Unternehmen: «Wir sehen immer stärker, dass gewisse Firmen daran interessiert sind, Extremsituationen zu simulieren. So können sie unter realen Bedingungen testen, ob ihre Notfallkonzepte funktionieren», so Bühler. Jedoch seien private Tests die Ausnahme, wohl nicht zuletzt, weil sie eine kostspielige Angelegenheit sind. Zwar unterstreicht Bühler mehrmals, dass der Führungssimulator bei weitem die günstigere Variante sei, als wenn eine Volltruppenübung mit Zehntausenden Soldaten durchgeführt werden müsse. Aber wie viel der Steuerzahler pro Einsatzminute berappt, sagt er nicht.

Apropos Geld: Bald steht in Kriens eine gewaltige Investition an. Denn der Führungssimulator ist in die Jahre gekommen, bis 2020 soll das neue System angeschafft und voll einsatzbereit sein. Auch hier kommuniziert die Armee die Anschaffungskosten nicht, da «es sich um einen laufenden Prozess» handle. Derzeit laufen die Auswahl und die Auftragsvergabe, acht Unternehmen sind noch im Rennen. Wer den Zuschlag erhält, ist offen. Womöglich geht er nach Frankreich, Schweden, Kanada. Auch die Schweizer Ruag hat offeriert. Das sei aber kein Grund, dem Rüstungsunternehmen den Auftrag einfach so zu geben. «Wir wollen das beste Produkt. Wenn es eine Schweizer Firma anbietet, dann ist das um so schöner, aber kein entscheidender Vorteil, um den Auftrag zu bekommen.» Bühler geht keine Kompromisse ein. Er will das Beste für sein Reich in Kriens. Hier, wo er König ist.