«Carmen» im Luzerner Theater: Emanzipation für Romantiker

Zu Recht frenetischer Premierenapplaus: Das Luzerner Theater zeigt «Carmen» als Gesamtkunstwerk aus Tanz, Musik und Bühne.

Urs Mattenberger
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Aurélie Robichon (mitte) übernimmt die Titelrolle in der «Carmen»-Choreografie. (Bild: LT/Gregory Batardon)

Aurélie Robichon (mitte) übernimmt die Titelrolle in der «Carmen»-Choreografie. (Bild: LT/Gregory Batardon)

Starke Frauen prägen die Spielzeit des Luzerner Theaters. In Dürrenmatts «Besuch der alten Dame» spuckt Delia Meyer auf die Männer. Salome lässt sich in der gleichnamigen Oper von Strauss den Kopf des Jochanan auf dem Silbertablett servieren. Und die aktuelle Tanzproduktion präsentiert mit Georges Bizets «Carmen» den Archetypus einer erotischen Femme fatale, die Männer ins Verderben stürzt.

Da war man bei der Premiere von «Carmen.maquia» am Donnerstag auf vieles gefasst – und dann überrascht von der Choreografie von Gustavo Ramírez Sansano. Der spanische Choreograf findet den Mut der Carmen, selbst zu entscheiden, was sie und was die Männer zu tun haben, «revolutionär». Und Aurélie Robichon, die diese Carmen unglaublich intensiv tanzt, spricht im Programmheft von einer «freien und starken», kurz: «emanzipierten Frau».

Kontrastreiches Bühnenbild

Eine kämpferisch-moderne Carmen also? Die Bühne von Luis Crepo lässt auf wunderbare Art alles offen: Das Weiss des Bühnenraums ist wie von mediterranem Licht geblendet und ermöglicht dramatische Schwarz-Weiss-Kontraste. Auch die von Picasso inspirierten skulpturalen Elemente, die Gefängnis oder Stierkampfarena suggestiv andeuten, sind in ihrer Stilisierung gleichermassen archaisch wie modern.

So grosszügig diese Leinwand ist, auf die Sansano das Geschehen projiziert, so unplakativ eingesetzt sind der Tanz und die Musik. Diese hat Sansano selber aus den «Carmen»-Suiten und anderen Werken von Bizet, Sarasate und Tarkmann so zusammengesetzt, dass die Musik bruchlos dahinfliesst, stampft und tanzt. Unter der Leitung von Clemens Heil spielt das Luzerner Sinfonieorchester mit viel Attacke, Atmosphäre und vor allem kammermusikalischer Raffinesse, wobei die Solovioline von Lisa Schatzmann (bei Sarasate) Carmen ins Delirium hebt und Oboe, Klarinette und Flöte sich innig umschlingen.

Tanz und Musik stimmen überein

Zum stimmigen Gesamtkunstwerk wird der Abend, weil der Ensembletanz dieses kammermusikalische Geflecht aufgreift. Grundlage ist eine tänzerische Sprache, die klassische Elemente und Typisierungen einbezieht und doch die Grenze zum platten Klischee kaum je überschreitet. Dazu gehört auch mal affiges Imponiergehabe der Männer, die sich mit athletischen Bodenrollen und rudernden Schulterbewegungen aufplustern. Dazu gehören anderseits die Schäkereien der Frauen, aus denen sich die Carmen wie eine von vielen herausschält. Es hat etwas Magisches, wie Aurélie Robichon die Figur allmählich über alle anderen hinaushebt – mit Bewegungen, die aus der Hüfte heraus in die Arme hoch und in den ganzen Raum ausstrahlen.

Es ist das klassische Spiel von Anziehung und Distanz, das der Stierkämpfer Escamillo (Giovanni Insaudo) lustvoll mitspielt und das der zum Schluss geprellte Don José (Zach Enquist) zum grossen Liebesdrama überhöht, in dem Carmen die Trauer über diese verlorene Liebe mit ihm teilt. Die Emanzipation schliesst an diesem hoch ästhetischen Abend die Liebe mit ein und ist eine für Romantiker.

Sogar der tödliche Streit zum Schluss hat die Sogkraft eines Liebesakts. Damit bleibt das Konfliktpotenzial der Geschichte zwar zunächst etwas unterbelichtet. Aber die Choreografie schafft mit ihren hautengen und raumgreifenden Umschlingungen eine emotionale Intensität – bis zum hier passenden, versöhnlichen Epilog. Der frenetische Applaus bestätigte: Damit hat das Theater einen Renner in dieser Saison auf sicher.

Nächste Vorstellungen: 6., 9., 11., 12. Oktober. Mehr Infos hier.