Nicht nur im Verwaltungsrat hat Raiffeisen Personalprobleme, sondern auch in der Geschäftsleitung. Bankchef Patrik Gisel, wegen seiner Nähe zu Pierin Vincenz unhaltbar, ist nicht so einfach zu ersetzen. Die Nachfolge dürfte extern geregelt werden.
Über Wochen und Monate hat sich Patrik Gisel an seinen Sessel geklammert. Genützt hat es ihm im Endeffekt nichts: Nun muss auch er gehen, als Folge der Affäre Vincenz. Und dies, obwohl noch nichts bewiesen ist. So ist trotz aller Verdachtsmomente nicht klar, ob sich Pierin Vincenz in seiner Zeit als Raiffeisen-Chef und damit als Gisels Vorgänger strafbar gemacht hat. Die Staatsanwaltschaft hat noch keine Anklage erhoben. Die Finanzmarktaufsicht Finma hat in ihrem Zwangsverfahren gegen Raiffeisen zwar «schwere Mängel in der Corporate Governance», also in der guten Unternehmensführung, ermittelt und Mitte Juni festgehalten: «Damit ermöglichte der Verwaltungsrat dem ehemaligen CEO (Vincenz) zumindest potenziell, eigene finanzielle Vorteile auf Kosten der Bank zu erzielen.» Aber auch hier müssen erst das laufende Strafverfahren sowie die interne Raiffeisen-Untersuchung unter Führung von Professor Bruno Gehrig Licht ins Dunkel bringen.
Obwohl also bisher keine Straftaten belegt sind, hängt Gisel mit drin. Es hilft wenig, dass der Raiffeisen-Verwaltungsrat auch jetzt betont, dass weder das Finma-Zwangsverfahren noch die Zwischenresultate der internen Untersuchung Gisel aufsichtsrechtlich belasteten und seine Integrität «ausser Zweifel» stehe. Denn: 13 Jahre lang war Gisel die Nummer zwei hinter Vincenz und will von dessen mutmasslichen Machenschaften nichts mitbekommen haben. Zumindest aus Sicht der Corporate Governance und damit moralisch betrachtet belegt die Finma diverse fragwürdige Vorkommnisse, spricht von Interessenkonflikten, ungenügendem Risikomanagement bei Kreditvergaben usw.
All das hinterlässt Zweifel an Gisel und an seiner Rolle, die er nie wird ausräumen können. Und das hat seine Reputation beschädigt und damit seine Glaubwürdigkeit. Kommt hinzu, dass auch der Unmut an der Basis, bei den einzelnen Raiffeisenbanken und den Regionalverbänden, laufend gestiegen ist und dadurch der Druck auf Gisel. Führungskräftevermittler Bjørn Johansson sagt: «Der Rücktritt ist der richtige Entscheid, auch wenn er spät gefallen ist.»
Im Allgemeinen tritt im Topmanagement ein Chef sofort zurück, sobald sich die Einsicht durchgesetzt hat, dass er untragbar geworden ist. Ein Beispiel ist Oswald Grübel, der 2011 als UBS-Chef ging, nachdem das Milliardengrab des Londoner Investmentbankers Kweku Adoboli ruchbar geworden war. Oder Susanne Ruoff, die zwar im Zuge der Postauto-Affäre noch etwas Bedenkzeit benötigte, dann aber im Juni, als ihr Rücktritt als Post-Chefin verkündet wurde, diesen unmittelbar vollzog. Im Fall Raiffeisen sieht es anders aus: Hier soll Gisel bis Ende Jahr im Amt bleiben, «um einen geordneten Übergang sicherzustellen». Mit anderen Worten: Der Verwaltungsrat hat es versäumt, einen internen Stellvertreter aufzubauen, der bei Bedarf die operative Spitze übernehmen kann. Das zeigt sich auch an der Formulierung, dass der Verwaltungsrat «die Suche nach einer Nachfolge umgehend eingeleitet» habe. Bisher hatte man sich also gar nicht mit der Frage befasst, was im Notfall mit dem verwaisten Chefsessel geschehen soll. Raiffeisen-Sprecherin Cécile Bachmann sagt zudem auf Anfrage, die Suche einer Nachfolgerin oder eines Nachfolgers für Gisel mit Hilfe eines Experten für die Vermittlung von Führungskräften «fokussiert auf externe Kandidaten». Und auf Nachfrage ergänzt sie, es sei «sehr unwahrscheinlich», dass jemand Internes auf den Raiffeisen-Chefsessel vorrücke.
Damit dürften die Spekulationen in den Medien, die Firmenkundenleiter Urs Gauch oder Finanzchef Christian Poerschke gute Chancen zuschrieben, Makulatur sein. Auch Johansson sagt, «natürlich wäre es besser, ein adäquater Ersatz stünde schon bereit». Aber er hält es auch für «in Ordnung», dass Gisel noch bis Ende Jahr bleibt. Zum einen sei dieser schon so lange im Job, zum anderen sei bei Gisel im Zuge der Affäre Vincenz «nichts Extremes gefunden» worden. Kommt hinzu, dass nach dem Abgang von Johannes Rüegg-Stürm mit Pascal Gantenbein schon das Verwaltungsratspräsidium neu besetzt sei, und dies vorerst interimistisch. Da ergebe es Sinn, sich mit der Chefsuche etwas Zeit zu lassen. «In diesem ganzen Prozess ist es sehr wichtig, das neue Team richtig zusammenzusetzen», sagt Johansson.
Kommt der neue Chef oder die neue Chefin von aussen, so ist das ein weiterer Baustein eines Neuanfangs im Sinne einer Rundumerneuerung. Im Raiffeisen-Verwaltungsrat ist dieser Prozess bereits im Gange. Noch muss das Aufsichtsgremium aber auf Anordnung der Finma mindestens zwei Mitglieder finden mit Erfahrung im Bankwesen, die für die Grösse des Instituts erforderlich ist. Zur Erinnerung: Raiffeisen ist hinter UBS und Credit Suisse die drittgrösste Bankengruppe des Landes und gilt als systemrelevant. Zudem fordert die Finma im Verwaltungsrat mindestens ein Mitglied mit angemessener Erfahrung punkto Compliance (Einhaltung von Richtlinien). Eine weitere Baustelle ist die Rechtsform: Auf Geheiss der Finma muss die genossenschaftliche Raiffeisen die Vor- und Nachteile einer Umwandlung in eine AG prüfen. Gisel und Gantenbein hatten bisher das Modell der Genossenschaft vehement verteidigt. Eine weitere offene Frage ist das künftige Machtverhältnis der einzelnen Raiffeisenbanken zur Zentrale in St. Gallen. Dieses hatte sich in der Vergangenheit zusehends zur Zentrale verschoben.
Welches Anforderungsprofil muss der neue Raiffeisen-Chef erfüllen? Johansson sagt, Geschlecht und Alter seien nebensächlich. Wichtig sei, dass es jemand aus der Schweiz sei, denn Raiffeisen sei eine Schweizer Bankengruppe. «Der neue Chef muss die Schweiz wirklich kennen und in all ihren Facetten verstehen und begreifen.» Gefragt sei eine sehr kundenorientierte Persönlichkeit, die etwas vom Risikomanagement verstehe, und Verständnis für Corporate Governance sei eine Voraussetzung. Nach all den Turbulenzen muss die erfolgreiche Kandidatin oder der erfolgreiche Kandidat laut Johansson «eine Führungspersönlichkeit mit sauberem Lebenslauf sein, die Vertrauen ausstrahlt».
Johansson zeigt sich zuversichtlich, dass Raiffeisen bis Ende Jahr die Nachfolge Gisels geregelt hat. «Der Markt für diesen Posten ist sehr klein, es gibt vielleicht zehn bis zwölf Kandidaten, die das Zeug dafür haben und wirklich interessiert sein könnten.» Diese Leute könne man in zwei bis drei Wochen identifizieren. Danach sei es Aufgabe des Führungskräftevermittlers, jemanden für die Aufgabe als Raiffeisen-Chef zu gewinnen, und dies «schnell, professionell und mit 100 Prozent Diskretion». Den Lohn sieht Johansson nicht als Knackpunkt: «Der Job per se ist interessant, und Vincenz und Gisel haben auch gut verdient.»