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ABB-Chef Björn Rosengren schwört auf Dezentralisierung. Woher kommt diese Idee? Was bedeutet sie für die Mitarbeiter?
Der Weltkonzern ABB wird seit über fünf Jahren umgeformt, um einer neuen Strategie zu entsprechen: Dezentralisierung heisst die neue Leitidee. Die Verantwortung wird von der Zentrale wegdelegiert zu den Divisionen, die sich möglichst eigenständig bewegen sollen. Letztes Jahr wurde mit Björn Rosengren ein CEO geholt, der diese Strategie schon an früheren Stationen mit heiligem Eifer durchgesetzt hat. Nun will er damit der 130 Jahre alten ABB neuen Schwung verleihen. Wenn Rosengren heute die Jahreszahlen veröffentlicht, liefert er erste Hinweise zur Stresstauglichkeit seines neuen Ansatzes im Coronajahr.
Einmal vorneweg: Die Idee ist nicht neu. Je nachdem, welchen Aspekt man in den Vordergrund stellt, kann man die Ursprünge in der Managementtheorie bis aufs Jahr 1950 zurückverfolgen. Und ABB ist damit in der Schweiz nicht allein. Ein Beispiel ist der Bauchemiekonzern Sika, der diese Idee seit den 1930er-Jahren nachlebt. Seit Jan Jenisch von der Sika zum weltgrössten Zementkonzern LafargeHolcim gewechselt hat, schwört man dort auf Dezentralisierung. Und Analysten finden den Ansatz zwar richtig für ABB. Dennoch hält sich die Begeisterung in Grenzen.
All das ficht Rosengren nicht an. Wie ABB-intern zu hören ist, ist der 62-Jährige begeistert von seinem Managementansatz und könne darüber endlos dozieren. Was aber steckt hinter der Idee?
Rosengren hat sie vom schwedischen Konzern Atlas Copco mitgebracht. Wie bei ABB dominiert auch dort die schwedische, industrielle Familie Wallenberg. In der Firmenhistorie heisst es: «Ohne Wallenbergs, kein Atlas copco.» Heute hat der Konzern genau 23 verschiedene Divisionen. Jede funktioniert wie ein eigenes globales Unternehmen. Jedes plant Übernahmen selbst und macht eigene Forschung und Marketing. Der Konzern gilt als sehr gut geführt. Doch was hält ihn zusammen?
Wenn man diese Frage nach Stockholm schickt, heisst es von der Atlas-Copco-Zentrale:
«Viele Dinge: Kultur, Fokussierung auf die Kunden, die Geschäftsbereiche, auf wir uns fokussieren – kurz: die Art, wie wir Dinge tun.»
Man habe sich dezentralisiert, weil man Tempo und Agilität aufrechterhalten wolle. Dann fällt ein Schlagwort, das oft im Zusammenhang mit Dezentralisierung zu hören ist: «Empowerment». Das heisst jene Mitarbeiter sollen zu Entscheiden ermächtigt sein, die am nächsten bei den Kunden sind.
Bei Atlas Copco geht die Idee auf das Jahr 1989 zurück. Der damalige Über-CEO Tom Wachtmeister dezentralisierte den Konzern. Ein Jahr darauf trat er nach 15 Jahren an der Spitze zurück. Im Geschäftsbericht jenes Jahres heisst es, eine Anzahl von Aufgaben sei wegdelegiert worden zu den Divisionen. In der Zentrale würden noch 80 Personen arbeiten – in einem Konzern von damals 21'000 Personen. Seither ist der Konzern eine Erfolgsgeschichte: Die Aktie ist heute 4,5 Mal höher bewertet als vor zehn Jahren - das dürfte Rosengrens Begeisterung erklären.
Ein anderes Erfolgsbeispiel ist der Bauchemiekonzern Sika, auch er mit einer imposanten Aktienkursentwicklung. Was Dezentralisierung heisst, zeigt eine Sika-Geschichte aus den 1930er Jahren, veröffentlicht in einer Festschrift. Der damalige Sika-Patron schickte einen Mitarbeiter mit etwas Geld nach Brasilien, um eine Ländergesellschaft aufzubauen. Jahrelang hörte er nichts mehr von ihm. Doch der Mitarbeiter gründete ein Unternehmen, kaufte Gelände und verkaufte erste Produkte. Sika-Vertreter betonen gerne, das Baugeschäft sei lokal, darum hätten die Länderchefs immer viele Freiheiten gehabt. Gebe man ihnen diese nicht, würden sie nur verwalten.
Es ist ein Idee, bei der es anscheinend auf die konkrete Umsetzung ankommt. Die theoretischen Grundzüge begeistern die Experten kaum. «Wirklich nichts Neues» kommentiert einer. Wobei die Idee unter verschiedenen Schlagwörtern und theoretischen Ansätzen abgelegt wird. Fragt man an der Hochschule St. Gallen nach, wird sie so genannt: «Portfoliomanagement von divisionalen Unternehmen». Die ersten solcher Unternehmen seien schon in den 1960er Jahren entstanden. Oder alles wird marketingtechnisch neu verpackt zu «agile organisations». Und findige Beratungsfirmen verkaufen «eine erfolgreiche Reise in Richtung mehr Agilität im täglichen Geschäft».
Es gebe immer wieder mal Wellen, in denen mehr Unternehmen dezentralisiert würden, sagt die Wirtschaftssoziologin Katja Rost von der Universität Zürich:
«Es ist ein Trend, der abhängig ist von Mode und Zeitgeist»
Dahinter stecke die Suche nach cleveren Strukturen, dank denen träge Konglomerate agil werden. «Die Mitarbeiter sollen nicht zu bürokratisch werden.» Also delegiert man Verantwortung. Divisionen weisen eigene Gewinne aus, und werden so zu «Profitzentren». Dieser Begriff wurde schon in den 1940er Jahren vom Managementberater Peter Druck geprägt. So wird die Leistung von Managern messbar – und kann belohnt, aber auch abgestraft werden. Die Manager sollen zu «Intrapreneurs» werden: Mitarbeiter, die zu Unternehmern werden.
Das klingt gut. Doch wie Wirtschaftsprofessorin Rost betont, komme es regelmässig zu Gegenbewegungen. Unternehmen würden merken, dass sie zu weit gingen und fassen wieder mehr Aufgaben in der Zentrale zusammen. Typischerweise geschehe dies oft in der Forschung und Entwicklung, weil diese in der dezentralisierten Struktur zu kurz kam. Die Divisionen würden zu sehr auf den kurzfristigen Erfolg achten, und dabei langfristige Forschung vernachlässigen. Rost: «Dieses Problem ist an sich bekannt, entsteht aber dennoch regelmässig in dezentralisierten Unternehmen.»
Wie lebt es sich als Mitarbeiter in einem dezentralisierten Konzern? Im besten Falle ist es befreiend. Wie Bernd Pomrehn, Analyst von Bank Vontobel, über den Bauchemiekonzern Sika sagt, bekämen dort der Mitarbeiter das Gefühl vermittelt, dass es auf sie ankomme und sie etwas bewegen könnten. «Es ist nicht so, wie bei manchen Grosskonzernen, wo in einigen Abteilungen das Gefühl verbreitet wird, man sei auf einem Nebengleis abgestellt.»
Aber es sei nicht jedermanns Sache, so Pomrehn. Das Tempo bei Sika sei hoch, wenn nötig werde auch an Feiertagen durchgearbeitet. Ähnlich sei es beim Zementkonzern LafargeHolcim, seit Jan Jenisch von der Sika dorthin wechselte. Jenisch prüfe seine Leute knallhart, sie müssten zeigen, was sie draufhätten. Wenn man da gerne mitziehe, mache es Spass und man könne viel erreichen. Pomrehn: «Wenn nicht, fühlt man sich schnell fehl am Platz.»
Bei ABB verspricht sich der Analyst der Bank Vontobel neuen Schwung von der Dezentralisierung. Dennoch hat Mark Diethelm die Aktie nur auf «Halten», was so viel heisst wie: Hat man den Titel bereits, soll man ihn halten; wenn nicht, muss man ihn nicht haben. Diethelm erklärt dies vor allem mit dem Preis: Die Aktie nehme schon viel vorweg und sei bereits teurer, als es die Konkurrenz im Schnitt sei. Diethelm teilt die Sorge, die bestimmte Art von Forschung könnte vernachlässigt werden: langfristig-orientiert, über mehrere Bereiche hinweg. Dass es nicht so komme, müsse ABB erst noch beweisen.
Und schliesslich, so Diethelm, läge in einzelnen Märkten auch nicht viel mehr Wachstum drin für ABB, auch nicht für eine dezentralisierte ABB. Hier dürfte auch die Krux für liegen: Aller Schwung nutzt nur dann etwas, wenn er auch ausgelebt werden kann. Dafür muss ABB in den richtigen Märkten sein. Rosengren wird also genau hinschauen: Welche Geschäfte verkauft er, wo kauft er dazu?