Boris Zürcher, Arbeitsmarkt-Chef des Bundes, erklärt, warum die Kritik an seiner Statistik unbegründet ist und vor welchen Herausforderungen Schweizer Arbeitnehmer stehen.
Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsleistung in der Schweiz können sich sehen lassen, sind aber derzeit wenig berauschend. Der Frankenschock sitzt unserem Land noch immer in den Knochen. Die Quote der registrierten Arbeitslosen gemäss Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) wird im laufenden und auch im nächsten Jahr mit 3,3 Prozent leicht überdurchschnittlich bleiben, prognostizierte die Konjunkturforschungsstelle der ETH vergangene Woche.
Boris Zürcher ist seit August 2013 Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Zuvor amtete er als Chefökonom und Direktor von BAK Basel Economics. 2007 bis 2012 war er Chefökonom und Vizedirektor bei Avenir Suisse, Think Tank for Economic and Social Issues. Zuvor wirkte er als wirtschaftspolitischer Berater der Bundesräte Pascal Couchepin, Joseph Deiss und von Bundesrätin Doris Leuthard im Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartement. Nach einer Lehre als Maschinenzeichner und der berufsbegleitenden Matura studierte er Volkswirtschaft und Soziologie an der Universität Bern. Seit 2003 lehrt Boris Zürcher selbst dort.
Das Bundesamt für Statistik (BFS) berechnet die Quote nach den Standards der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und kommt so auf 4,6 Prozent. Gemessen daran steht Deutschland besser da, und andere Länder holen auf. Dem Seco wird vorgeworfen, die Arbeitslosigkeit zu unterschätzen. Boris Zürcher, Leiter der Direktion für Arbeit beim Seco, erklärt im Interview diese Abweichung in der vielleicht wichtigsten Kennzahl jeder Volkswirtschaft. Und er verrät, warum den Schweizern die Angst um die eigene Stelle stets im Nacken sitzt.
Boris Zürcher: Die beiden Statistiken ergänzen sich. Die Seco-Arbeitslosenstatistik ist Amtsstatistik und Versicherungsstatistik zugleich. Nur wer bei den Regionalen Arbeitsvermittlungszentren RAV registriert ist, wird in der Statistik erfasst.
Nein. Auch Ausgesteuerte oder nicht versicherte Personen sind erfasst, sofern sie bei einem RAV gemeldet sind. Auch wenn sie keinen Taggeldanspruch haben, können sie bei einem RAV registriert bleiben und von gewissen Dienstleistungen, beispielsweise Beratung, profitieren.
Teilweise. Der Anteil Personen, die keine Taggelder beziehen und dennoch bei einem RAV gemeldet sind, beträgt rund 30 Prozent.
Die Erwerbslosenstatistik basiert auf der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung SAKE und wird gemäss den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation ILO erhoben. Damit sind internationale Vergleiche möglich. Sie erfasst einmal pro Quartal durch telefonische Umfrage bei einer Stichprobe von rund 30 000 Personen den Teil Erwerbsloser an der Bevölkerung zwischen 15 und 74 Jahren. Im langjährigen Durchschnitt liegt die Erwerbslosenquote des BFS zwischen 1 und 1,5 Prozentpunkten über der Arbeitslosenquote des Seco.
Das hängt von der Fragestellung ab. Die Seco-Statistik wird monatlich erstellt und zeigt relativ rasch, was am Arbeitsmarkt vorgeht. Es handelt sich um eine Vollerhebung, die einen zuverlässigen Indikator der Konjunktur nach Regionen, Berufen, Branchen und Alterskategorien gibt. Die Erwerbslosenquote dagegen erscheint vierteljährlich und eignet sich besser für Fragestellungen über die demografische Struktur der Erwerbslosen. In den letzten drei Quartalen deutete sie etwa eine leichte Zunahme der Erwerbslosigkeit bei über 50-Jährigen an. In den neusten Zahlen zeigt sich das aber nicht mehr.
Für uns ist wichtig, dass im Trend beide Statistiken sehr ähnlich sind. Bei unseren Einschätzungen stützen wir uns stets auf beide. Etwa bei der Frage, ob sich für eine Gruppe die Situation relativ zu anderen stark verändert.
Nicht generell. Punkto Alter oder Qualifikationen kommen beide Statistiken zu übereinstimmenden Ergebnissen.
Die Arbeitslosenversicherung berücksichtigt mit einer längeren Taggeldbezugsdauer für Personen ab 55 Jahren, dass ältere Personen zum Teil länger brauchen, um eine neue Stelle zu finden. Dies spiegelt sich vollständig in den Zahlen des Seco. Gleichzeitig ist der Anteil der über 50-Jährigen an den Ausgesteuerten leicht überdurchschnittlich. Wenn sie bei einem RAV registriert bleiben, erscheinen sie weiterhin in der Seco-Statistik. Viele ziehen es aber vor, sich nicht weiter zu melden. Sie werden dann in der BFS-Erwerbslosenstatistik erfasst.
Wie eine aktuelle Studie bestätigt, waren von allen Ausgesteuerten ein Jahr nach der Aussteuerung rund die Hälfte wieder erwerbstätig. Über mehrere Jahre betrachtet, waren insgesamt sogar neun von zehn Ausgesteuerten wieder auf am Arbeitsmarkt. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass Arbeitsverhältnisse nach einer Aussteuerung etwas instabiler sind. Die Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit und von Aussteuerungen ist daher in der Arbeitslosenversicherung eine wichtige Zielsetzung. Von einer Aussteuerung sind gering qualifizierte Personen überproportional betroffen. Knapp die Hälfte der Ausgesteuerten sind Ausländer.
Den Umständen entsprechend sehr gut. Seit 2008 durchlief er mehrere heftige Erschütterungen: Die Finanzkrise von 2008/2009, die Eurokrise ab 2010, der erste Frankenschock 2011 bis zum zweiten Frankenschock 2015. Es ist erstaunlich, wie gut sich der Arbeitsmarkt in der Schweiz hält. Ende Februar waren knapp 160 000 Personen oder 3,6 Prozent bei einem RAV als arbeitslos gemeldet.
Ja, die Zeitungen titelten «höchster Wert seit fünf Jahren». Dabei war die Zahl nur saisonal bedingt so hoch. Der Januar ist immer der schlechteste Monat. Danach geht die Quote runter. Im Juli dreht der Saisoneffekt und die Quote steigt wieder bis Dezember. Die um diese Effekte bereinigte Arbeitslosenquote liegt seit Oktober 2015 bei 3,3 Prozent. Das ist nur leicht über
dem langjährigen Schnitt von 3,2 Prozent.
Für die Schweiz bin ich immer optimistisch. Wir haben einen hoch flexiblen Arbeitsmarkt und eine vergleichsweise geringe öffentliche Verschuldung. Sobald die Zinsen steigen, werden andere Staaten hohe Schuldzinsen zahlen müssen, was auf das Wirtschaftswachstum drücken wird. Auch der demografische Wandel ist bei uns weniger ausgeprägt als im Rest Europas – dank der Zuwanderung. Politisch ist die Schweiz zudem ein Hort der Stabilität.
Nicht am Arbeitsmarkt. Aber es gibt sicher ein paar wichtige Baustellen – etwa die Altersvorsorge oder die Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Oft wird der Anstieg der Gesundheitskosten mit der demografischen Alterung begründet. Doch von der Alterung hat das Gesundheitswesen noch kaum etwas zu spüren bekommen. Das wird erst kommen, wenn die Baby-Boomer pflegebedürftig werden, also in 10 bis 15 Jahren.
...den Kommentar von Chefredaktor Patrik Müller zur Arbeitslosigkeit in der Schweiz: "Gift für Sozial- und Rentenreformen"
Gegenwärtig eher aus dem südlichen Europa. In diesen Ländern ist der Arbeitsmarkt weniger flexibel, was sich unter anderem in einer hohen Jugendarbeitslosigkeit niederschlägt. Ältere und etablierte Arbeitskräfte sind dort im Vergleich zu Berufseinsteigern und Jüngeren bevorteilt, beispielsweise durch rigide Tarifverträge mit starrem Kündigungsschutz. Wenn die Jungen sehen, dass in der Schweiz eine passende Stelle ausgeschrieben ist, sind sie eher bereit zu kommen.
Ja – vor allem aber eine deutliche Abnahme. 2008 betrug der Wanderungssaldo, also die Differenz zwischen Zu- und Abwanderungen, rund 98 000 Personen. Letztes Jahr waren es noch rund 65 000. Dies inklusive der Zuwanderung aus Drittstaaten. Letztes Jahr betrug der Beschäftigungszuwachs in der Schweiz nur 15 000 Stellen, das hat sich auf die Einwanderung aus EU und Efta ausgewirkt. Die Zuwanderung aus Drittstaaten reagiert hingegen nicht auf die Konjunktur.
Unser Fazit der Zuwanderung ist überwiegend positiv. Wir stellen keine systematische Verdrängung am Arbeitsmarkt fest. Die Zuwanderung insbesondere aus EU- und Efta-Ländern entspricht einer Nachfrage der Unternehmen. Sie reagiert daher auf die Konjunktur in der Schweiz. Da heute deutlich weniger Junge in den Arbeitsmarkt eintreten als früher, federt sie ausserdem den demografischen Wandel ab. Hinzu kommt: Wir haben eine stark spezialisierte Wirtschaft, also werden Spezialisten gesucht, die nicht immer im Inland verfügbar sind.
Die Schweiz ist klein. Da macht es keinen Sinn, für drei Leute eine Hochschul-Fakultät in einem sehr speziellen Bereich hochzuziehen. Beispielsweise Chemie und Pharma oder die Industrie ganz allgemein sind auf hochqualifizierte Spezialisten angewiesen. Die ausländischen Arbeitnehmer ergänzen somit die einheimischen Arbeitskräfte, sie konkurrenzieren sie nicht.
Der Entscheid war sehr knapp. Ich glaube nicht, dass der Arbeitsmarkt das zentrale Problem war. Eher der Dichtestress oder das Problem der Zersiedelung. Dann war die Nettozuwanderung tatsächlich ausserordentlich hoch und es war kein unmittelbares Ende absehbar. Die Leute fragten sich: Jedes Jahr nochmals 80 000 Menschen aus dem Ausland mehr – wie verkraften wir das?
Wachstum hat der Schweiz in der Vergangenheit viel Wohlstand gebracht. Man muss einmal schauen, welches Land in Europa über die letzten Jahre überhaupt ein positives Wirtschaftswachstum hat. Da steht die Schweiz fast einzigartig da.
Deutschland ist im Moment eine Ausnahme. Es profitiert von einer stark unterbewerteten Währung – das Gegenteil der Schweiz. Das BIP in der Schweiz wächst, auch pro Kopf. Die Kaufkraft der Schweizer Löhne ist zudem gestiegen, obwohl die Entwicklung der Arbeitsproduktivität das nicht unbedingt rechtfertigt. Sogar bei Lohn-Nullrunden hatten wir dank negativer Teuerung eine Zunahme der Kaufkraft. Und dies nicht nur, wenn man ins Ausland einkaufen geht oder Ferien macht, auch bei den Konsumgütern im Inland oder den Mieten.
Der Arbeitsmarkt ist anspruchsvoller geworden in den letzten 20 Jahren. Die Schweiz hat einen Hochleistungsarbeitsmarkt: Es werden die höchsten Löhne der Welt bezahlt, aber gleichzeitig wird ein hoher Einsatz der Erwerbstätigen verlangt. Als Spiegelbild der hohen Diversifikation der Wirtschaft ist er auch sehr komplex und anspruchsvoll. Viele KMU sind in Nischen tätig und hoch spezialisiert, Grossunternehmen agieren weltweit. Daher stellen sich die Leute schon die Frage: Was passiert, wenn ich arbeitslos werde? Kann ich mit meiner Ausbildung und Erfahrung noch etwas anderes finden?
Top-Skills genügen oft nicht, es braucht auch soziale Kompetenzen und vieles mehr. Letztlich muss alles genau auf die Stelle passen. Mich überrascht nicht, dass trotz Fast-Vollbeschäftigung im Sorgen-Barometer, das die Credit Suisse seit 1980 herausgibt, Arbeitslosigkeit ständig die grösste Sorge ist. In den letzten fünf Jahren haben gut eine Million Menschen einmal die Erfahrung von Arbeitslosigkeit gemacht, zwar mehrheitlich nur kurz, manche aber auch länger. Das entspricht etwa 20 Prozent der Erwerbstätigen. Die Erfahrung von Arbeitslosigkeit ist also sehr verbreitet und es ist eine oft schwierige Erfahrung. Wir haben aber einen gut funktionierenden Arbeitsmarkt mit einem gut ausgebauten Bildungssystem und der nötigen sozialen Absicherung.
Digitalisierung soll Produktivitätsfortschritte bringen und wird daher zu einem Strukturwandel führen. Der Strukturwandel ist kein neues Phänomen. Ich glaube auch nicht, dass die Digitalisierung disruptive Folgen haben wird, wie das einige befürchten. Die Schweiz ist bestens gerüstet, um mit dem Strukturwandel klarzukommen. Ein Grossteil des Strukturwandels in den Unternehmen wird zudem durch die natürliche Personalfluktuation bewältigt. Voraussetzung, um den Strukturwandel möglichst reibungslos, also mit möglichst geringer Arbeitslosigkeit zu bewältigen, ist aber eine hohe Durchlässigkeit des Arbeitsmarkts, sprich eine hohe Flexibilität.
Schauen Sie, streng genommen war ich selber ein frühes Digitalisierungsopfer (lacht). Im Ernst: In den frühen 1980er- Jahren habe ich eine Lehre als Maschinenzeichner absolviert. Damals ein Handwerk. Nach Abschluss meiner Lehre trat CAD – Computer Aided Design – seinen Siegeszug im Technischen Büro an. Folge waren hohe Produktivitätsfortschritte – und dass sich das Technische Büro ziemlich schnell leerte. Verwerfungen am Arbeitsmarkt hat es deswegen nicht gegeben.
Jene, die blieben, hatten nachher eine anspruchsvollere Arbeit und sie verdienten auch besser. Dank CAD wurde man vom Zeichner zum Konstrukteur. Andere wurden – und damit sind wir wieder bei der Fluktuation – pensioniert, haben sich umschulen lassen oder haben anderswo eine Stelle angetreten. Diese Entwicklung mag für den einen oder anderen disruptiv gewesen sein, im Arbeitsmarkt jedoch hinterliess die damalige Digitalisierungswelle kaum Spuren. Die Beschäftigung und die Einkommen sind weiter gestiegen und die Arbeitslosigkeit blieb sehr
tief. Ich bin zuversichtlich, dass die neue Digitalisierungswelle ebenfalls reibungslos bewältigt werden wird.