Deutschland erwacht allmählich aus dem «Sommermärchen». Die Flüchtlingskrise wird bereits mit der Herausforderung der Wiedervereinigung verglichen. Übernimmt sich Angela Merkel?
Von Patrik Müller aus München
Im Festzelt bricht Jubel aus wie nach einem Tor des FC Bayern. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter platzt fast vor Stolz: Nach nur zwei Schlägen hat er es geschafft. Das Bier sprudelt aus dem Fass – o’zapft is! Der erste Schluck am Oktoberfest gehört dem bayrischen Ministerpräsidenten: «Schmeckt süsslich», sagt Horst Seehofer, «ein richtig gutes bayrisches Bier.»
Gestern um 12 Uhr ist in München wieder alles so wie jedes Jahr. In den Tagen zuvor aber war der Oberbürgermeister nonstop als Krisenmanager im Einsatz. Innerhalb von zwei Wochen kamen fast 70 000 Flüchtlinge in München an – das sind mehr als doppelt so viele, wie die Schweiz im ganzen Jahr aufnimmt. München hat die Aufgabe mit Bravour gemeistert, eine menschliche und logistische Spitzenleistung erbracht.
Am Oktoberfest aber sind keine Flüchtlinge zu sehen. Das liegt nicht nur daran, dass die Zahl der Neuankömmlinge zuletzt stark gesunken ist, weil Ungarn die Grenze dichtgemacht hat. Sondern auch daran, dass die Behörden am Hauptbahnhof «gezielt», wie ein Beamter sagt, die Festbesucher und die Flüchtlinge trennen: Letztere werden auf die Nordseite des Bahnhofs geleitet, Erstere auf die Südseite.
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) begründete die Massnahme: «Insbesondere Asylsuchende aus muslimischen Ländern sind Begegnungen mit massiv alkoholisierten Menschen nicht gewohnt.» Diese Aussage löste Protest aus. Eine Zeitungskolumnistin rief gar zum Boykott des Oktoberfestes auf, weil dort «die berühmte bayerische Gastfreundschaft» offenbar nicht für Flüchtlinge gelte.
Festlaune hier, Flüchtlingselend dort: Diese Gegensätze sollen sich in München nicht begegnen. Doch ganz trennen lassen sie sich nicht. Am Marienplatz schiessen am Samstagvormittag Touristen in Lederhosen Selfies, offensichtlich sind sie bereits angeheitert. Unweit davon stehen vor dem Apple-Store junge Männer, Asylbewerber aus Afghanistan. Sie nutzen mit ihren Smartphones das Gratis-WLAN, das aus dem Laden strahlt. Zu ihrer Flucht möchten sie nichts sagen, dafür fragt einer auf Englisch, woher denn ich komme. Als er «Switzerland» hört, sagt er: «Dorthin würden alle Inder fliehen, wenn sie müssten – wegen der Bollywood-Filme.»
Noch sind die Bilder der hilfsbereiten Bevölkerung mit Teddybären und «Welcome»-Plakaten in Erinnerung, doch «die Stimmung in Deutschland ist leider am Kippen», sagt Sarah (42), eine Immobilienmanagerin aus Freiburg, auf dem Weg zum Festgelände. «Angela Merkel war leichtsinnig, als sie diese Selfies mit Flüchtlingen machte», kritisiert sie. «Diese Fotos gingen in Windeseile um die Welt und locken Menschen aus den Flüchtlingslagern zu uns. Es werden zu viele.» Wählt sie CSU?, frage ich. «Nein, eigentlich die Grünen», antwortet sie und wirkt dabei selbst überrascht.
Es ist die CSU, die bayrische Schwesterpartei der Merkel-CDU, die mit ihrem Gespür für die Volksseele die Kanzlerin zurzeit besonders hart attackiert. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer nannte ihre inzwischen weltberühmte Aussage «Wir schaffen das» einen Fehler und ärgerte sich diese Woche gleich nochmals, als Merkel nachlegte: «Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze.» Seehofer befürchtet, Merkels Worte und Bilder würden im Zeitalter des Smartphones noch mehr Menschen nach Deutschland locken. 800 000 Flüchtlinge erwartet man dieses Jahr. Mindestens. Und was ist, wenn der Zustrom in den nächsten Jahren einfach weitergeht?
«Wegen Überfüllung kein Einlass», heisst es vor dem Schottenhamel-Festzelt. Für Seehofer könnte es auch das Motto in der Asylpolitik sein. Mit der Presseakkreditierung kommt man trotzdem ins Festzelt. Dort frage ich Seehofer: Warum kritisieren Sie die Kanzlerin? «Wir wollen jetzt auf der Wiesn nicht politisieren», beginnt er, um dann doch zu sagen: «Die Abläufe der letzten 14 Tage haben jedem die Augen geöffnet. Auf der einen Seite ist viel guter Wille vorhanden in der Bevölkerung, aber auf der anderen Seite schaffen wir das einfach nicht mehr.»
«Wir schaffen das» oder «Wir schaffen das nicht»? Das ist zurzeit die Glaubensfrage in Deutschland. Merkel und Seehofer sind die Fürsprecher der beiden Lager. Warum soll man es nicht schaffen? Seehofer: «Die Möglichkeiten sind nicht mehr da – es ist eine Überforderung für Europa, aber auch für die Bundesländer. Wir müssen jetzt vernünftige Wege finden, damit alles verkraftbar bleibt.» Sagts und wendet sich ab. Er winkt dem Tisch zu, an dem die Sänger Florian Silbereisen, Mireille Mathieu und die Stimmungskanone DJ Ötzi sitzen.
DJ Ötzi frage ich, ob die Flüchtlingsdramen die Festfreude trübe. «Ein bisschen vielleicht schon», meint er und setzt ein nachdenkliches Gesicht auf. Um sogleich vom Festzelt dementiert zu werden: Als das Orchester «Ein Frohsinn, ein Frohsinn der Gemütlichkeit» anstimmt, stehen alle auf und stemmen ihre Krüge in die Höhe.
Die grossen Medien feierten Deutschland bis vor wenigen Tagen für seine Willkommens-Euphorie. Nun aber mehren sich auf einmal die kritischen Kommentare. «Merkel und die Flüchtlinge: Weiss sie, was sie tut?», fragt die «Zeit» auf der Titelseite. Auch der «Spiegel» zeigt Merkel auf dem Cover – im Look von Mutter Teresa, darüber die Schlagzeile «Mutter Angela», und fragt: «Wächst ihr alles über den Kopf?» Die schärfste Kritik ist in der «Welt»zu lesen: «Merkel ruiniert Europa», lautet ein Titel, und dann heisst es: «Die Kanzlerin trifft einsame Entscheidungen mit der Arroganz deutscher Vormachtstellung.»
Die Flüchtlingskrise – sie wird in Deutschland mehr und mehr an der Person Merkels abgearbeitet, die seit exakt zehn Jahren im Amt ist. Man wundert sich, wie aus der kühlen Machtpolitikerin fast über Nacht die kühne Flüchtlingskanzlerin werden konnte, die mit ihrer Politik der offenen Grenzen «ihr ganzes Vertrauenskapital aufs Spiel setzt» («Spiegel») und diese Woche erneut mit einem Gefühlsausbruch von sich reden machte: «Wenn wir jetzt anfangen müssen, uns zu entschuldigen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land», sagte sie. Es werden historische Vergleiche herangezogen, um die Asylsituation in Deutschland einzuordnen. Die «Zeit» greift hoch: «Diese Krise ist grösser als der 11. September und härter als die deutsche Vereinigung. Sie ist komplizierter als beide.»
Wie reagiert Merkel? Nicht sie selbst, aber ihre Regierung beginnt mit den ersten Rückzugsgefechten. Anfang Woche wurden wieder Grenzkontrollen eingeführt. Deutschlands Botschafter in Afghanistan trat am dortigen Fernsehen auf und stellte klar, es könne nicht jeder nach Deutschland kommen. Und der Innenminister hat diese Woche eine Verschärfung des Asylrechts und die konsequente Einhaltung des Dublin-Prinzips angekündigt – geplant seien «die schärfsten Leistungseinschränkungen für Flüchtlinge, die es in der Bundesrepublik je gab», schrieb die «Süddeutsche Zeitung».
Die Ankündigung ist auch eine Reaktion auf die Stimmungslage in der Bevölkerung. Die Angst ist gross, dass früher oder später die Rechtspopulisten Kapital aus Merkels Asylpolitik schlagen. Im März 2016 finden im ostdeutschen Bundesland Sachsen Parlamentswahlen statt. Eine Umfrage von dieser Woche schockierte viele: Die «Alternative für Deutschland» war gleich stark wie die SPD, und auch die rechtsextreme NPD legte zu. Bereits Pegida, die noch vor dem grossen Asyl-Zustrom entstand, hat gezeigt, wie schnell auch in Deutschland Protestbewegungen Zulauf erhalten können. Selbst sozialdemokratische Spitzenpolitiker, die Merkel inhaltlich am stärksten stützen, sagen neuerdings Sätze wie: «Wir können nicht allen Menschen eine Heimat sein» (Vizekanzler Sigmar Gabriel in «Bild»).
Mit jedem Tag zeigen sich die Herausforderungen klarer: Wenn die kalte Jahreszeit beginnt, wird die Unterbringung der Flüchtlinge zum Problem. Für sie und deren Kinder braucht es rund 20 000 neue Lehrer und Beamte, heisst es. Bei den Behörden lagern 250 000 Asylgesuche, die noch unbearbeitet sind. Und die langfristig schwierigste Aufgabe wird die Integration derer sein, die nie in ihre Heimatländer Syrien, Afghanistan, Irak oder Eritrea zurückkehren werden.
Doch auch wenn Deutschland allmählich aus dem «Sommermärchen» erwacht: Viele Bürger sehen die Krise bemerkenswert differenziert. In der Studentenbox des Schottenhamel-Festzelts, an deren Wänden die Verbindungswappen prangen, ist man sich am Tisch von Architektur-Student Ansgar (20) einig. Er sagt: «Die Flüchtlinge sind auch eine Chance, etwa für den Arbeitsmarkt.» Zudem dürfe man nicht vergessen, dass Deutschland wirtschaftlich stark sei und «noch viel Platz» habe. Für Ansgar ist ganz Europa gefordert: «Wir schaffen es, wenn ganz Europa eine gemeinsame Lösung findet.»
Oberbürgermeister Reiter, ein Sozialdemokrat, ist gleicher Meinung. Er halte sich an die Kanzlerin – und nicht an den bayrischen Ministerpräsidenten. «Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung wird anhalten», sagt er zur «Schweiz am Sonntag», und erzählt, dass er auf dem Weg durch die Stadt zur Wiesn «viel Beifall» erhalten habe: «Ich sehe das als Signal, dass unsere Politik unterstützt wird.» Es klingt ein bisschen so, als würde er sich selbst Mut machen.
Dann stimmt die Kapelle das Lied «Die Hände zum Himmel» an: «Wir wollen trinken, noch einen trinken / weil man die Sorgen dann vergisst / wir klatschen zusammen / und keiner ist allein.»
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