Eine neue Untersuchung zeigt: Schweiz böte Lebensraum und Beuteangebot für 17 Rudel.
Es gibt Nachwuchs: In den vergangenen Wochen sind im Valle Morobbia TI drei Wolfskinder auf die Welt gekommen. In der Walliser Augstbord-Region sollen sich derzeit drei und im Bündner Calanda-Massiv sechs Welpen tummeln. «Wie viele es genau sind, wissen wir noch nicht», sagt Wildhüter Claudio Spadin aus Trin GR. Die Jungen seien noch klein und hielten sich im Unterholz auf.
Die Eltern des Wurfs am Churer Hausberg dürften erneut die Wölfin F07 und der Rüde M30 sein. Sie haben sich bereits zum fünften Mal fortgepflanzt. Jeweils im Alter zwischen zehn Monaten und zwei Jahren ziehen die Jungtiere allerdings weiter und suchen ihr eigenes Revier. Deshalb zählt das Rudel konstant acht bis zehn Wölfe.
Lebensraum für mehr Wölfe
Insgesamt leben 30 bis 40 Wölfe in der Schweiz. Ein Rudel konnte sich – ausser im Calanda-Massiv – nur noch im Tessin und im Wallis etablieren. «Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis sich auch andernorts Familienverbunde bilden», sagt Urs Breitenmoser. Er ist Leiter des Vereins Kora, der im Auftrag des Bundes das Monitoring von Grossraubtieren durchführt. Der Forscher stützt seine Aussage auf die neue Kora-Untersuchung «Wolf in the Alps». Diese zeigt: Der Lebensraum und das Beuteangebot in der Schweiz böte Potenzial für 17 Rudel.
«Wälder und Heiden sind das Habitat der Wölfe. Davon haben wir in der Schweiz und im gesamten Alpenraum genügend», sagt Breitenmoser. Zudem seien die Raubtiere sehr anpassungsfähig. Abhängig ist die Ausbreitung jedoch nicht nur von der ökologischen Tragfähigkeit, sondern auch von der Akzeptanz der Bevölkerung. Zwar ist in Umfragen eine Mehrheit für die Rückkehr des Wolfes, doch gleichzeitig haben viele Menschen Angst.
«Der Wolf hat einen schlechten Ruf», sagt Breitenmoser. Dabei seien Angriffe auf Menschen extrem selten. Die wenigen belegten Attacken in Europa sind auf Einzeltiere zurückzuführen, die entweder in Bedrängnis waren oder an Tollwut litten. Solange die Diskussion nur auf Vorurteilen gründet, könnten keine Ängste abgebaut werden. «Wir müssen erst wieder lernen, mit dem Wolf zu leben.»
Die Einwanderung des Wolfs aufzuhalten, ist schwierig. Bereits heute leben im Alpenraum Hunderte Tiere. In Deutschland haben sich innert weniger Jahre 35 Rudel gebildet. Zudem können sie weite Strecken zurücklegen. Es kam schon vor, dass ein Wolf in wenigen Monaten bis 1000 Kilometer gewandert ist, um einen Partner zu finden und dann eine Familie zu gründen. Die Kora-Studie geht deshalb davon aus, dass die Schweiz in rund 20 Jahren um die 17 Rudel haben könnte.
Allerdings steht die Rückkehr des Wolfs in der Schweiz in einem Spannungsfeld: Die Bevölkerung sieht ihre Freizeitaktivität in Wald und Bergen bedroht, Nutztierhalter fürchten um ihre Schafe und Kühe, die Jäger sehen den Wolf als Konkurrenten. Klar willkommen heissen dagegen die Förster das Raubtier. «Ohne Raubtiere sind unsere Wälder nicht im Gleichgewicht», sagt Maurus Frei, Leiter der Arbeitsgruppe Wald und Wildtiere des Schweizerischen Forstvereins. Hirsch, Reh und Gämsen verhindern in bedeutenden Teilen des Schweizer Waldes, dass sich dieser natürlich verjüngen kann. «Werden die kleinen Bäume zu stark abgefressen, fehlen in Zukunft die grossen, die uns und unsere Dörfer vor Naturgefahren schützen.» Frei ist überzeugt: «Wie die Jäger können deshalb auch der Luchs und der Wolf einen Beitrag zur Reduktion hoher Wildbestände leisten und damit zur Sicherung der Waldleistungen beitragen.»
Flora und Fauna haben sich auch im rund 12,3 Quadratkilometer grossen Gebiet zwischen Flims und Felsberg verändert, wo das Calanda-Rudel lebt. «Das Wild ist scheuer geworden», sagt Wildhüter Claudio Spadin. Es ziehe sich stärker ins Dickicht zurück, Rehe und Hirsche würden zunehmend die Gegend meiden.
Das wiederum verärgert die Jäger. «Wer ein Jagdgebiet pachtet oder ein Jagdpatent gelöst hat, will Beute machen», sagt David Clavadetscher, Geschäftsführer vom Jägerverband Jagd Schweiz. Doch wenn die Tiere heimlicher seien, sei das Bejagen deutlich schwieriger und mit mehr Aufwand verbunden.
Ein ausgewachsener Wolf frisst zwischen drei und fünf Kilogramm Frischfleisch oder Aas pro Tag. Das entspricht etwa 70 Rehen pro Jahr. «Bevorzugt reissen sie alte oder schwache Tiere», sagt Gabor von Bethlenfalvy, Verantwortlicher für den Bereich Grossraubtiere beim WWF Schweiz. Ein Rudel beobachte eine Herde Wildtiere oft über Stunden, bis es die schwächste Beute ausgemacht habe. «Damit verhelfen die Wölfe zu einem kräftigen und gesunden Wildtierbestand.»
Für den WWF Schweiz steht fest: «Nicht der Wolf ist der grösste Konkurrent der Jäger, sondern der Mensch selber.» Das zeige die eidgenössische Jagdstatistik deutlich. 8400 Rehe kamen vergangenes Jahr im Strassenverkehr um, 500 beim Gleisüberqueren, 1400 wurden von Landmaschinen getötet und über 400 wurden von Hunden zu Tode gebissen. Auch bei Nutztieren ist der Wolf nicht die grösste Bedrohung. 250 000 Schafe und 30 000 Ziegen gehen jährlich z’Alp. Rund 2 Prozent, also 5600, kommen in erster Linie wegen Krankheiten um. Von Wölfen gerissen werden «nur» zwischen 100 und 400. Dies zeigt eine gemeinsame Untersuchung der Umweltverbände mit dem Schafzuchtverband.
Dem Wolf an den Kragen
Trotzdem ist der Wolf derzeit stark unter Druck. Der Bundesrat hat das Jagdgesetz gelockert und am 24. August in die Vernehmlassung geschickt. Neu sollen auch Dezimierungen erlaubt sein, um präventiv Schäden zu vermeiden. Die Natur- und Tierschutzverbände laufen Sturm. «Ein Abschuss von Wölfen wird fälschlicherweise als einfachste Lösung propagiert», sagt von Bethlenfalvy vom WWF Schweiz. Dabei führe das unspezifische Töten in den meisten Fällen zu keiner Reduktion der Nutztiertierübergriffe, teilweise gar zu einer Verschlimmerung.
Zu diesem Schluss kommt die soeben erschienene Studie «Frontiers in Ecology and the Environment». «Ein Verlust eines Rudelmitglieds destabilisiert die Familienstruktur und dadurch wird es unberechenbarer.» Die Rudelstabilität sei jedoch nebst dem Herdenschutz einer der wichtigsten Faktoren, um Übergriffe auf Nutztiere tief zu halten. Die Kantone haben bis Ende November Zeit, sich zum Jagdgesetz zu äussern.
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