Warum haben die Mädchen so grosse Angst vor der Mathematik?

In kaum einem anderen Land sind gemäss Pisa-Studie die geschlechtsspezifischen Unterschiede so gross.

SaW Redaktion
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In den 80er-Jahren haben es sogar die Lehrerinnen in den Klassenzimmern gesagt: «Mädchen sind einfach schlechter in Mathematik als Buben, dafür können sie besser lesen.» In den Augen der modernen Pädagogik ein fataler Fehler: Meistens erfüllt sich eine solche Prophezeiung, wenn sie nur oft genug wiederholt wird. Nimmt man Mädchen das Selbstvertrauen für mathematische Aufgaben, werden sie mit grosser Wahrscheinlichkeit daran scheitern.
Heute gehen Lehrerinnen und Lehrer behutsamer vor. Sie versuchen den Mädchen Mut für Mathe zu machen und den Buben zu erklären, dass Lesen nicht Mädchensache ist. Dennoch sind die Unterschiede geblieben, wie die diese Woche veröffentlichte Pisa-Studie bestätigt.
Besonders die Angst vor Mathematik ist unter den Schweizer Mädchen sehr verbreitet. In kaum einem anderen Land unterscheiden sich die Geschlechter so stark wie bei uns. Das ergab eine Sonderbefragung im Rahmen der Pisa-Studie, an der 65 Länder teilnahmen. Während 40 Prozent der Buben angeben, der Matheunterricht mache ihnen Angst, sind es bei den Mädchen 57 Prozent. In Deutschland beträgt der Unterschied 15 und in Italien sogar nur 7 Prozent. In anderen Kulturkreisen wie Brasilien sind die Unterschiede mit 0,4 Prozent hingegen kaum vorhanden.
Dabei wäre es gerade für Schweizer Mädchen wichtig, ihre Angst abzulegen, denn laut Pisa-Studie beeinflusst diese Furcht den Lernerfolg «massgeblich». Das heisst, ohne Angst würden die Mädchen noch besser abschneiden.
«In der Schweiz wird Mathematik noch immer als ein sehr männliches Fach wahrgenommen», sagt Urs Moser vom Institut für Bildungsforschung der Universität Zürich, der die Pisa-Studie für die Schweiz betreut. Das ging so weit, dass die Schulen noch vor 30 Jahren die Mädchen in die Hauswirtschaft schickten, während die Buben Geometrie lernten.
Das Schweizer Gedankengut sei in vielen Belangen sehr traditionell geprägt. Hier können sich solche Stereotypen noch immer bilden, sagt Moser – und sie halten sich auch besonders lange. Besonders deutlich zeigt sich diese Tatsache im Frauenstimmrecht. In Appenzell Innerrhoden dürfen Frauen erst seit 1990 abstimmen. Das bleibt in den Köpfen der Eltern hängen – und sie übertragen es auf ihre Kinder.
Mädchen würden sich oft selber die Fähigkeiten für Mathematik absprechen, sagt Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg. Hinzu käme heute die grosse Erwartungshaltung der Eltern. Sie wollen ihre Sprösslinge in allen Bereichen pushen. «Das kann dann eine Abneigung gegenüber Mathematik verstärken und sich zu Prüfungsangst steigern», sagt Stamm.
Um den Kindern diese Angst zu nehmen, sind besonders die Väter gefragt. Sie spielen in der Regel körperbetont und treiben ihre Kinder so zu neuen Herausforderungen, manchmal überfordern die Väter sie auch. Laut Entwicklungspsychologen lernen die Kinder aber gerade in solchen Situationen, ihre Angst zu überwinden.
Doch die Zuwendung der Eltern alleine kann die Geschlechterdifferenzen nicht erklären. Die Unterschiede zeigen sich schon vor dem Schulalter. Eine Langzeitstudie hat ergeben, dass beim Schuleintritt die Schweizer Knaben bereits besser rechnen können und die Mädchen mehr Buchstaben kennen. Auch an der Kinderuniversität der Uni Zürich ist dieses Phänomen zu beobachten. In die Labors gehen vor allem die Jungs. Dabei sind die Mädchen gleichermassen neugierig und kompetent. Die Weichen werden also bereits im Kinderzimmer gestellt.
Wenn Buben vermehrt mit technischen Spielzeugen und Bauklötzen spielen, dann schult das ihr räumliches Vorstellungsvermögen. Mädchen hingegen – das ist wissenschaftlich erwiesen – sprechen mehr als Knaben, was die Affinität zur Sprache fördert. Im Teenager-Alter klaffen neue Lücken. Während Mädchen lieber lesen, setzen sich Jungen vermehrt mit Computerspielen auseinander. Gerade die oft verschrienen Ego-Shooter fördern das für die Mathematik wichtige räumliche Denken.
Sollten wir die Mädchen also nicht nur für die Mathematik motivieren, sondern ihnen auch vermehrt Jungenspielzeug geben; den Knaben hingegen Puppen ins Kinderzimmer legen?
Davon hält Psychologe Gijsbert Stoet von der Universität Glasgow nicht viel. Anders als die zurzeit vorherrschenden Sozialtheorien sucht er die Erklärung in der Evolution. Man müsse sich vorstellen, wie das Leben in der Steinzeit gewesen sei, sagt er. Die Risikobereitschaft der Männer und das eher behütende Verhalten der Frauen hätten zum Überleben der menschlichen Rasse beigetragen. Die Frauen durften sich weniger Gefahren aussetzen, um das Überleben des Nachwuchses zu sichern. «Dass Männer eine stärkere Risikobereitschaft an den Tag legen, lässt sich auch heute noch nachweisen», sagt Stoet.
Und diese helfe auch bei der Mathematik: Um mathematische Aufgaben zu lösen, muss man oft eine eigene Strategie entwickeln und kann nicht einen gelernten Lösungsweg verfolgen. Das braucht Mut. Mädchen trauen sich weniger oft, von einem vorgegebenen Muster abzuweichen. Würden sie es tun, könnten die Schweizer Mädchen ihre Pisa-Ergebnisse noch weiter hochschrauben.
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