Valentina (11) schrieb ein Buch über ihr Leben mit ihrem autistischen Bruder Leo. Den Erlös will sie der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf sVpenden.
Valentina hält die schwarze Katze auf ihrem Schoss fest, obwohl sie sich in ihren Armen windet. «Ich finde meinen Bruder lustig, wenn er nicht gerade nervt», antwortet sie auf die Frage, wie sie die Beziehung zu ihrem Bruder beschreiben würde. Leonardo, ihr achtjähriger Bruder hat frühkindlichen Autismus und geht in die Schule der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf. Valentina, seine elfjährige Schwester, hat ein Buch «Der Delfin in der Hängematte», über ihr Leben mit Leo, wie sie ihren Bruder nennt, geschrieben.
«Wir fanden eigentlich, der Name Rockstar würde zu ihm passen. Denn immer wenn ihm etwas nicht passt, schlägt er seinen Kopf gegen die Wand», sagt sie. An das Kopfschlagen habe sie sich bereits gewöhnt, doch der Krach, den es verursache, nerve sie immer noch. Weil er nicht reden kann, teilt Leo durch das Kopfschlagen mit, dass ihm etwas fehlt. Meist versuche er so lange zu schlagen, bis er das gewünschte Objekt in den Händen halte oder es ihm langweilig werde. «Verstehen tut er zwar das Meiste, aber er tut nur das, was er will», sagt Valentina. Rufe sie ihn zum Essen, komme er sofort daher, doch wenn es ums Aufräumen gehe, verstehe er auf einmal nichts mehr. Leo könnte auch abwaschen, doch wenn es ihm nicht mehr passt, dann lässt er einfach den Teller fallen. Deshalb ist er nun befreit von diesem Ämtli. «Manchmal bin ich ein wenig eifersüchtig auf Leo, dass er so vieles machen darf», sagt Valentina.
Die Ideen gehen Leo nie aus. Während des Videochats mit Valentina probiert er beispielsweise Zündhölzer zu essen. «Uns wird es auch in der Coronaselbstquarantäne nicht langweilig», sagt Sonia Gössi, Valentinas Mutter. Leo unterhält unfreiwillig sein ganzes Umfeld: Valentina beschreibt in ihrem Buch, wie er beispielsweise eines Tages den Ehering seiner Betreuerin ass. «Ich gehe nicht mehr gerne mit ihm einkaufen», sagt Valentina. Man werde dank seines Verhaltens schnell berühmt. «Ich schäme mich manchmal für sein Auftreten», sagt sie. Doch wenn die Leute ihn komisch ansehen, verteidigt sie ihn sofort. Dann starre sie mit einem finsteren Blick auf die Person. «Die meisten blicken dann schnell weg und ich fühle mich stark dabei», sagt Valentina.
Rund ein Prozent der Bevölkerung hat eine Diagnose aus dem Autismus-Spektrum, schreibt der Verein Autismus Schweiz. Insgesamt erhalten Männer häufiger als Frauen die Diagnose. Mädchen können Schwierigkeiten im sozialen Bereich oberflächlich besser kompensieren und fallen deshalb weniger auf. Der Begriff «Autismus» kommt aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich bezogen sein». Menschen mit einer autistischen Störung nehmen ihre Umwelt anders wahr. Autismus ist noch nicht heilbar. Die Therapie verfolgt meist zwei Ziele: Zum einen sollen die Fähigkeiten gefördert werden, zum anderen geht es darum, die Entwicklung zu unterstützen. Diese Ziele werden mittels Verhaltenstherapie, einer Form der Psychotherapie, verfolgt. (lyl)
Leo gehört nicht nur zu Valentinas Leben, sondern auch zu dem ihrer Kolleginnen. Ihre beste Kollegin komme gut mit ihrem Bruder klar. «Doch eine andere Kollegin fragte einmal, wie es meinem verrückten Bruder gehe. Das verletzte mich», sagt sie. Bei einigen merke sie, dass sie sich schnell zurückziehen, wenn sie feststellen, dass Leo anders ist. «Das finde ich blöd, denn das macht man nicht», sagt sie. Manchmal probiere sie, das Verhalten ihres Bruders zu erklären. «Leo ist nicht in unserer Welt, er nimmt die Sachen anders wahr», sagt sie dann. Wenn sie etwa Musik laufen lasse, sei diese für ihn zu laut, oder das Licht sei ihm zu hell. Er empfinde alles stärker. Obwohl Valentina sich gewohnt ist, ihr Leben Leo anzupassen, nervt sie sich wie alle Schwestern auch über ihren Bruder. Beispielsweise wenn er in ihr Zimmer kommt und dort ein Chaos anrichtet und Sachen abtransportiert, wenn er ihr iPad will oder wenn sie im Auto die Musik nicht so laut hören darf, wie sie es sich wünscht.
Als Valentina zum Geburtstag ihrer Oma ein achtseitiges Buch über ihr Leben mit Leo schrieb, waren alle erstaunt. «Ich las die Emotionen, die sie in Worte fasste und musste weinen», sagt die Mutter. Ihren Alltag schwarz auf weiss zu lesen, rührte sie sehr. Um noch mehr Leute für Autismus zu sensibilisieren, habe sie angefangen mit Valentina und einer Onlinelektorin ihr abenteuerliches Leben mit Leo zu dokumentieren. Das war vor rund zwei Jahren. Während dieser Zeit erinnerte sich Valentina immer wieder an komische, alltägliche oder peinliche Episoden, die sie gemeinsam mit ihrem Bruder erlebte. «Es war wie eine Familientherapie», sagt Sonia Gössi. Valentina erzählte das Erlebnis, die Mutter tippte es ab, die Onlinelektorin fragte nach und strukturierte das Buch. Frank Baumann, Moderator und Illustrator, zeichnete die Bilder zu den Geschichten. Am Welt-Austismus-Tag, dem 2. April, wird das Buch im Wörterseh Verlag erscheinen. «Der Erlös des Buches wird in die Stiftung Kind und Autismus in Urdorf fliessen», sagt Sonia Gössi.
«Meine Lieblingszeichnung ist die mit dem Weihnachtsmann, der einen Kick von mir erhält», sagt Valentina. Das passiere, wenn der Weihnachtsmann ihren Wunschzettel noch einmal nicht erfülle. In den letzten Jahren war Valentinas Wunschliste dreimal voll mit Wünschen. Doch am Schluss stand jeweils: Valentina würde auf all diese Wünsche verzichten, wenn der Weihnachtsmann ihrem Bruder helfen würde, zu reden. Beim dritten Mal fügte sie an, wenn dies noch nicht möglich sei, solle er ihr doch wenigstens eine Katze schenken.
Könnte Leo reden, würde Valentina ihn fragen, weshalb er ihr immer wieder Sachen aus ihrem Zimmer wegnehme. «Doch wahrscheinlich würde ich 17 Tage nicht zum Reden kommen, weil er einen solchen Nachholbedarf hat», sagt Valentina.
Der Delfin in der Hängematte
Das 96-seitige Buch von Valentina wird
am 2. April, dem Welt-Autismus-Tag, im Wörterseh Verlag erscheinen. Es ist auch online erhältlich.