Das weltweit erste Mehrfamilienhaus ohne Anschlüsse für Strom, Öl oder Erdgas wird seit Mittwoch gebaut — um ein Versuchsprojekt handle es sich nicht.
Gut 2000 Menschen bewohnen das südwestlich an die Stadt Winterthur angrenzende Brütten. Unangefochtene Sehenswürdigkeit der Gemeinde dürfte der Vermessungspfeiler sein, der den Mittelpunkt des Kantons Zürich angibt. Bis jetzt zumindest. Geht es nach den Plänen der Umwelt-Arena in Spreitenbach, dürfte Brütten gleich bei dessen Ortseingang in gut einem Jahr ein Leuchttrum-Projekt der Nachhaltigkeitsbewegung beherbergen. Das nach Angaben der Umweltarena weltweit erste Mehrfamilienhaus, das ohne Anschluss an Strom, Öl und Erdgas auskommt — somit energieautark ist —, soll Ende Jahr stehen.
Am Mittwoch wurde in der Umweltarena der symbolische Grundstein für das Neun-Familien-Haus gelegt. Walter Schmid, Verwaltungsratspräsident der Umwelt-Arena, verwies darauf, dass die wichtigste Voraussetzung für ein 100-prozentig energetisch unabhängiges Gebäude die Steigerung der Effizienz in jedem Bereich sei – von der Energieproduktion über deren Speicherung bis hin zum Verbrauch. Die Motivation hinter dem Projekt sei die Unabhängigkeit: «In der Schweiz können wir nicht auf Rohstoffe zurückgreifen, Technologien sind unsere Stärke», so Schmid. Diese gelte es zu fördern und zu nutzen.
«Unabhängig» und «sich selbst genügend» sind Synonyme für autark. Beim nachhaltigen Bauen zielt diese Unabhängigkeit auf die Zufuhr von externen Energiequellen. So gelten für das energieautarke Mehrfamilienhaus der Umwelt-Arena in Brütten folgende Eigenschaften:
- Die Sonne ist die einzige externe Energiequelle.
- Das Gebäude verfügt über keinen Anschluss an das öffentliche Stromnetz.
- Dem Gebäude werden keine externen Energieträger wie Heizöl, Strom oder Holz zugefügt.
- Den Bewohnern steht für ihr Leben im Haus ganzjährig nur so viel Energie zur Verfügung, wie das Haus produziert und speichert.
Zwei Autos inklusive
Eine der grössten Herausforderungen bei der Planung war laut Architekt René Schmid das Ungleichgewicht zwischen Energieproduktion und dessen Verbrauch: «Während im Sommer der Stromertrag sehr hoch, der Verbrauch aber eher gering ist, sieht es in den Wintermonaten gerade gegenteilig aus», sagt er. Um dieses Stromdefizit auf ein Minimum zu reduzieren, setzten die Architekten auf eine Fassade bestehend aus Solarpanels, eine «perfekte» Isolation sowie die Verwendung von Haushaltsgeräten mit der Energieetikette A+++, die für «sehr sparsam» steht.
Mit der Verwendung von Solarpanels als Fassaden- und Dachelemente ist die Energiespeicherung jedoch noch nicht gesichert. Eine Stunde Sonnenschein reicht dafür aus, den Energiebedarf der neun Familien einen Tag lang zu decken. Die mit den zusätzlichen Sonnenstunden generierte Energie wird in Kurz- oder Langzeitspeicher gefüllt. Während der Sommermonate gehen die Planer von zirka acht Sonnenstunden pro Tag aus. Die Batterien für die kurzzeitige Speicherung reichen für Energielücken von drei bis vier Tagen, mit den Langzeitspeichern können derweil bis zu 25 Tage ohne Sonneneinstrahlung überbrückt werden. Mit dem aus den Sommermonaten überflüssigen Strom aus der Photovoltaikanlage wird Wasserstoff produziert und gespeichert. Mittels einer Brennstoffzelle kann damit zum gewünschten Zeitpunkt Strom produziert werden.
Weiter stehen den Mietern zwei Autos zur Verfügung. Das eine ist ein Elektroauto, das durch Energie aus der Photovoltaikanlage aufgeladen wird, beim anderen handelt es sich um ein Biogasauto. Für dieses stehe so viel CO -neutrales Biogas zur Verfügung, wie von den biologischen Abfällen aller Bewohner gewonnen werden könne.
Mieter erhalten Energieinfos
Das integrierte Gebäudeleitsystem informiert die Bewohner über ihren aktuellen Energieverbrauch und die zur Verfügung stehenden Kapazitäten. «Dieses ist sehr einfach zu verstehen und besteht hauptsächlich aus einem roten und einem grünen Balken, die es zu beachten gilt», so Roger Balmer, der für die Haustechnik verantwortlich zeichnet. Seien die Bewohner über den Verbrauch informiert, würden sie auch sparsamer mit der Energie umgehen. Sie könnten, neige sich die Reserve zu Ende, auch Massnahmen ergreifen, wie das Licht ausschalten oder die Heiztemperatur tiefer stellen.
Welche Mieter sind denn als künftige Bewohner der Überbauung in Brütten vorgesehen? Laut Walter Schmid würden vier Mietparteien gesucht, die sich zu einem energiesparenden, nachhaltigen Lebensstil bekennen. Die anderen vier müssten keine spezielle Affinität zu diesen Themen haben. «So können die unterschiedlichen Gewohnheiten nach einer Weile verglichen und allenfalls Erkenntnisse daraus gewonnen werden», so Schmid. Dass es sich beim Projekt, das die Umweltarena gemeinsam mit 40 Ausstellungspartnern realisiert, jedoch um ein Versuchsprojekt handle, weist Schmid weit von sich. «Die angewendeten Technologien sind aufs Hundertfache erprobt. Sie funktionieren. Nur deren Zusammenspiel ist hierbei die Neuheit.»
Ein Kritikpunkt an energetisch effizienten Wohnhäusern ist stets der Preis. «Je öfter nachhaltige Technologie verwendet wird, desto günstiger wird diese auch», sagt Walter Schmid. So sei die Bausumme für das energieautarke Haus zwar rund zehn Prozent höher, als diejenige eines herkömmlichen Hauses im Minergie-Standard. Die Mietpreise bewegen sich im oberen Segment der ortsüblichen Ansätze. Konkret heisst dies, dass eine 4,5-Zimmer-Wohnung für rund 2500 Franken zu haben sein wird.
Wer den Stand der Bauarbeiten verfolgen will, ohne das Limmattal zu verlassen, der kann dies ab kommendem Frühling tun. Dann nämlich startet in der Umweltarena in Spreitenbach eine Ausstellung, im Rahmen derer, die Baustelle in Brütten via Webcam live zugeschaltet wird.
Sichtlich erfreut trat Alt Bundesrat Moritz Leuenberger (SP) vor das Publikum an der gestrigen Grundsteinlegung des ersten energieautarken Hauses der Welt. «Es freut mich ganz speziell, der politische Götti dieses Projektes zu sein», sagte Leuenberger. Er, der vor Doris Leuthard dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) vorstand, nannte es Ironie der Geschichte, dass gerade Leuthard die Energiewende mit der Energiestrategie 2050 vorantreibt. «Womöglich macht die vormals kritische Haltung Leuthards gegenüber der Abkehr von Kernkraftwerken ihre Strategie umso glaubwürdiger beim Volk», so Leuenberger. Wenn sich ehemalige Opponenten für eine Sache einsetzten, dann zeuge dies von einem wahrhaftigen Gesinnungswandel. Obwohl der Begriff Energiewende nicht mehr aktuell sei. «Es entsteht der Eindruck, dass man eine Rösti oder ein Omelett in die Luft wirft und wenn es wieder in der Pfanne landet, ist die Wende vollbracht.» Dabei sei der Begriff der Energiestrategie eine viel passendere Alternative, da langsam und stetig auf ein Ziel hingearbeitet würde. «Wer sich heute für die Förderung und Nutzung nachhaltiger Energiequellen einsetzt, der wird morgen belohnt», so der ehemalige Politiker weiter. Denn es stehe aus direktdemokratischen Gründen fest, dass in der Schweiz keine neuen Kernkraftwerke erbaut würden, da diese dem fakultativen Referendum unterstünden. Auch wenn sich immer mehr politische Wendehälse hinter die Energiewende, oder eben die Energiestrategie, stellen, so ist es dennoch unabdingbar, dass die Bürger zu einem nachhaltigen Umgang mit den Energieressourcen animiert würden. «Erst mit dem Prinzip Freiwilligkeit, dann mit Gesetzen und schliesslich mit Sanktionen.» Dabei sei vieles im Gang. Wie das Volk im März über die Energiesteuer-Initiative entscheidet, stehe in den Sternen und die Energiestrategie 2050 müsse noch vom Parlament und allenfalls vom Volk durchgewunken werden. Eines stehe aber fest: «Das erste energieautarke Mehrfamilienhaus, das kommt.» (aru)