Der Schriftsteller und brillante Intellektuelle Peter von Matt diagnostiziert der Schweiz einen «Wahn, wenn nicht einen Wahnsinn». Er spricht über die Folgen des Mauerfalls für das Selbstverständnis unseres Landes und erklärt, was heutige Autoren von Frisch und Dürrenmatt unterscheidet.
Herr von Matt, Sie haben in Ihrem Essayband «Das Kalb vor der Gotthardpost» die Schweiz als janusköpfiges Land zwischen Fortschrittsglauben und Konservatismus beschrieben. Welche der beiden Blickrichtungen dominiert in der Schweiz 2014?
Peter von Matt: Man darf nicht vergessen: Der römische Gott Janus war ein Glücksgott. Er überblickte die Vergangenheit und die Zukunft. Erst wir haben den Begriff janusköpfig zu einem Ausdruck für ein charakterloses Verhalten erklärt. Das hängt damit zusammen, dass wir Sturheit und Kompromissunfähigkeit als Zeichen eines starken Charakters betrachten. Was ein Irrtum ist. Stur sein kann jeder Esel.
In der Politik sind heute klare Positionen statt Kompromissbereitschaft gefragt.
Der Kompromiss wird von vielen verachtet, dabei ist er die höchste und heikelste Kunst der Politik – und die Basis jeder vernunftgeleiteten und humanen Politik.
Und wie ist es jetzt mit meiner Frage zur Schweiz?
Die Fähigkeit, im Blick auf das Herkommen und die überlieferten Werte die Aufgaben der Gegenwart zu lösen und die Zukunft vorsichtig zu planen, war lange Zeit ein Merkmal und sogar ein Geheimrezept der politischen Schweiz. In der Geschichte, genauer: In vielen Erzählungen aus unserer historischen Vergangenheit besassen wir Modelle des Handelns, auf die von Fall zu Fall zurückgegriffen werden konnte. Die Versöhnung im letzten Moment oder, bei einem ausgebrochenen Bürgerkrieg, der Waffenstillstand, bevor es an die endgültige Vernichtung des Gegners ging, hat die Eidgenossenschaft mehrmals gerettet. Der Blick zurück auf den genossenschaftlichen Eid hat den Handschlag unter Zähneknirschen und damit das gemeinsame Überleben möglich gemacht.
Die Janus-Strategie als eidgenössisches Erfolgsrezept?
Janus, der vorwärts und zurück gleichzeitig schaut, ist in diesem Sinn der Glücksgott der Schweiz. Aber wir haben jetzt das Problem, dass in der Politik aus dem Sowohl-als-auch immer mehr ein Entweder-oder gemacht wird, aus Propagandagründen. Das kann unsere Zukunft gefährden.
Wie hat sich Ihre eigene Blickrichtung im Verlauf der Zeit verändert?
Ich habe die Geschichten und Sagen aus unserer historischen Überlieferung immer als ein Reservoir politischer Handlungsmuster betrachtet, und zwar auch jene Geschichten, die offenkundig gar nie passiert sind. Die Tell-Story wurde vom Obwaldner Landschreiber und Politiker Hans Schriber um 1470 aus einer dänischen Chronik in die Schweizer Geschichte eingebaut und hat sich sofort dramatisch verbreitet, eben weil sie ein politisches Handlungsmuster von existenziellem Wert darstellte. Ohne den gemeinsamen Tell wäre die Schweiz in der Reformation auseinandergebrochen. Es ist also die jeweilige Gegenwart, die den aktuellen Sinn der Überlieferung bestimmt. Und die jeweilige Gegenwart, das sind die Köpfe politisch verantwortungsbewusster Bürgerinnen und Bürger.
Was bedeutet für Sie politisch verantwortungsbewusst?
Das heisst: Die Gegenwart vorurteilslos studieren und mit grösster Aufmerksamkeit in die Zukunft schauen. In diesem Sinne hat sich bei mir nichts verändert. In der Schweiz aber steht es mit der verantwortungsbewussten Analyse der Gegenwart und Zukunft schlecht.
Woran erkennen Sie das?
Wir haben fast nur noch polternde Parolen und politische Schlagwörter, die mehr Knallpetarden sind als Produkte der konzentrierten Auseinandersetzung mit der Weltlage.
Wie ist denn die Weltlage?
Die weltpolitische Situation ist in einer Weise unvorhersehbar geworden, wie ich es noch nie erlebt habe. Diese neue Unvorhersehbarkeit hat mit der Wende von 1989 begonnen. Diese hatten auch die klügsten Köpfe nicht für möglich gehalten. Ich traf an jenem Abend Max Frisch bei einem gemeinsamen Bekannten, dem Arzt Johann Steurer. Ich weiss noch, wie mir damals durch den Kopf schoss: Wenn das möglich ist, dann ist von nun an alles möglich.
Was war das für ein Gefühl, damals vor 25 Jahren?
Beim Wort «alles» wurde ich nicht hoffnungsfroh, sondern beklommen. Es hat sich bewahrheitet, auch für die Schweiz. Wenige Jahre später wurde sie vor der ganzen Welt als Hitler-Helfershelfer und Kriegsprofiteur vorgeführt, dann kamen die Rezession der 90er-Jahre, die Jugoslawien-Kriege, das Swissair-Debakel, 9/11, der zweite Irakkrieg, der in Wahrheit bis heute andauert und grässlicher ist als je zuvor. Wenn ich von der neuen Unvorhersehbarkeit spreche, reagiert man meistens gleichgültig, im Sinne von: Was soll mich das kümmern, wenn ich ja nicht wissen kann, was passiert?
Das ist doch ein menschlicher Reflex: Man ist überfordert und zappt weg.
Wenn ich nur an das laufende Jahr denke, von Syrien, der Krim über Ebola, den Gazastreifen bis zum ISIS-Terror, dann scheint mir die Unvorhersehbarkeit ein Faktum zu sein, das auch der politischen Reflexion bedarf. Zum Beispiel mit der Frage: Auf wen können wir uns verlassen, wenn plötzlich das Unheil über uns hereinbricht?
Und diese Reflexion vermissen Sie?
Statt eines solchen Nachdenkens höre ich überall die Meinung: Uns kann nichts passieren, wenn wir nur mit allen andern Ländern nichts zu tun haben. Wir sind die Besten, uns gehts am besten, wir brauchen niemanden. Das ist ein Wahn, wenn nicht ein Wahnsinn. Neue Terroranschläge in Europa sind nur eine Frage der Zeit. Neue Krankheiten ebenfalls. Uns kann nichts passieren? Wir brauchen niemanden?
Spielen Sie damit auf das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar an, das die politische Debatte in eine neue Richtung gedreht hat?
Diese Abstimmung ist ein Symptom, kein Wendepunkt. Ja und Nein waren zahlenmässig praktisch gleich. Wir haben jetzt einen Sack voll Probleme, um die wir grossen Lärm machen können, um dabei zu vergessen, worüber wir eigentlich nachdenken sollten. Kann uns wirklich nichts passieren? Brauchen wir wirklich niemanden? Die Abstimmung hat diese Sorgen zugedeckt, indem sie erklärte, es gebe für die Schweiz nur eine Sorge: die Einwanderung. Das ist der Täuschungseffekt dieses 9. Februar. Er verdeckt die komplizierte Wirklichkeit unserer weltpolitischen Situation. Er verhindert die Überlegungen, die wir uns eigentlich machen müssten. Das Gleiche geschieht mit «Europa», «Europa» als Schlagwort, nicht als geografische, wirtschaftliche, kulturelle und politische Wirklichkeit.
Wenn Sie mit «Europa» die EU meinen, dann sind die Meinungen in der Tat gemacht: Kaum einer will da hin.
«Europa» löst heute bei sehr vielen Leuten sofort Reflexe aus, und zwar gefühlsmässige, im sogenannten Bauchgefühl. Diese Reflexe sind von zwei Tendenzen gefärbt: Feindseligkeit und Verachtung. Das ist gefährlich und es beruht auf Denkfehlern. «Europa» wird von vielen ganz offen zum Feind der Schweiz erklärt, wobei irgendwie beides gemeint ist, die EU und der ganze Kontinent, auf dem wir mit sehr vielen andern Menschen leben. Es ist leider eine psychologische Tatsache, dass viele Leute den Mann lieben, der ihnen einen Feind schenkt, welchen sie dann hassen können.
Wir sehnen uns nach dem Feindbild EU?
Wenn ich einen Feind habe, wird die Welt sofort eindeutig und glasklar. Ein Feind, den ich hassen kann, ist wie eine Droge. Sie beflügelt mich. Damit kann man Politik machen, und man tut es auch. Ein Beitritt der Schweiz zur EU ist heute weit und breit kein konkretes Thema. Man könnte diese Frage also einfach auf sich beruhen lassen. Man braucht sie aber, um das Feindbild aufzuheizen. Damit verhindert man ein sachliches und sorgfältiges Nachdenken über das Verhältnis der Schweiz zum ganzen Kontinent, auf dem sie sich nun einmal befindet. Man verhindert ein Nachdenken über die Frage, ob die Schweiz wirklich das einzige Land der Welt ist, das sich um seine Nachbarn nicht zu kümmern braucht. Wir sitzen auf dem hohen Ross. Das ist aber ein Ort, wo schon mancher beim nächsten Tordurchgang den Kopf angeschlagen hat.
Erstaunlich ist, dass Ecopop, von politischen Aussenseitern lanciert, gemäss Umfragen beträchtliche Zustimmung bekommt.
Diese Initiative ist ebenfalls ein Symptom für das beschriebene Problemmanagement der Schweiz.
Lange wurde der bilaterale Weg als Königsweg bezeichnet, quer durch alle Parteien, er war völlig unbestritten. Inzwischen gibt es starke Kräfte von rechts, die sagen, die bilateralen Verträge mit der EU seien für die Schweiz gar nicht so wichtig. Wie erklären Sie sich das?
Es geht hier um innenpolitische Macht, also um Stimmen. Dass man dafür den Leuten das Blaue vom Himmel herunter verspricht, ist in einer Demokratie üblich. Das Problem beginnt erst dann, wenn eine Mehrheit die Behauptungen glaubt, ohne sie zu überprüfen, das heisst, ohne sich über die Gründe und Gegengründe in den Medien zu orientieren und sich dann langsam eine eigene Meinung zu bilden. Das gibt zu tun, aber es ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie.
Und diese Voraussetzung ist nicht mehr erfüllt?
In einer Demokratie wie der unsern ist eine Stimmbürgerin, ein Stimmbürger nicht einfach ein Fan wie bei einem Fussballclub, sondern ein Experte, der seinen Entscheid sorgfältig treffen muss wie ein Arzt, wenn er die Diagnose stellt. Wir führen alle unseren Staat gemeinsam. Nur mit Bauchentscheiden und Fanklub-Verhalten fahren wir unser Land in den Strassengraben. Aber ich fürchte, es gibt tatsächlich Leute, die glauben, dort wäre ein wunderbarer Aufenthaltsort für die Schweiz.
Vor einem Monat haben Kulturschaffende, Wirtschaftsvertreter und Wissenschafter den Appell für Europa lanciert – den «Aufruf besorgter Bürgerinnen und Bürger». Haben Sie ihn auch unterschrieben?
Ich habe davon nur gelesen. Aber ich bin für jede Form von sorgfältigem Nachdenken über das politische Dornengestrüpp, in das die Schweiz in jüngster Zeit geraten ist. Wenn sie dieses Dornengestrüpp nur schon wahrnehmen würde, wäre viel gewonnen. Das öffentliche Nachdenken einer solchen Gruppe ist für mich wichtiger als die eventuellen Parolen, die zuletzt dastehen. Nicht die einfache Parole, sondern das sorgsame Nachdenken schafft die Expertinnen und Experten, welche unser Land als Stimmbürgerinnen und Stimmbürger braucht.
Wie politisch ist die jüngere Generation von Schriftstellern? Viel hört man nicht von ihr, eine Ausnahme ist Lukas Bärfuss, der eben den Buchpreis erhalten hat.
Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben heute nicht mehr die gleiche Funktion wie im Kalten Krieg, als die politische Schweiz ein Teil der westlichen Front gegen den Ostblock war und die Parolen des Kalten Krieges vielfach nachbetete. Damals waren die Stimmen von nicht parteigebundenen Leuten sehr wichtig. Sie durchbrachen Denkgebote und Denkverbote und wurden dafür attackiert. Heute ist die Medienöffentlichkeit ganz anders. Damals wartete man auf das Wort von Frisch, von Dürrenmatt, von Hugo Loetscher, von Peter Bichsel, von Laure Wyss. Heute wartet niemand auf das Wort von Bärfuss, obwohl er trotzig daran festhält, sich politisch zu äussern. Aber viele unserer heutigen Autorinnen und Autoren sind politisch wacher, expertenhafter, als es beim oberflächlichen Lesen scheint. Entscheidend für die Politik ist die Zahl der denkenden Köpfe, nicht die lärmenden Talks.
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