Writer in Residence
Teju Cole in Zürich - dreizehn Arten, einen Berg zu betrachten

Nach einem halben Jahr in Zürich kehrt Teju Cole am Sonntag nach New York zurück. Mit nimmt er Stapel von Fotografien und eine neue Liebe für die Schweiz.

Sophie Rüesch
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Writer in Residence - Teju Cole
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Writer in Residence - Teju Cole

Teju Cole

Als Teju Cole im Juni Schweizer Boden betrat, wusste er noch nicht viel über das Land, das ihm für sechs Monate lang ein Zuhause werden sollte. Von den Bergen habe er natürlich gehört, erzählte er nach seiner Ankunft, von der Schoggi und dem Käse, und vom Geld, das hier im Überfluss vorhanden ist. Teju Cole, der mehrfach preisgekrönte Schriftsteller, der aufmerksame Stadtwanderer, der Fotograf, Journalist, Kunsthistoriker und Profi-Twitterer und für ein halbes Jahr der Writer in Residence des Zürcher Literaturhauses und der Stiftung PWG, war nicht viel besser vorbereitet auf die Schweiz als ein herkömmlicher Tourist.

Nun, drei Tage vor seiner Rückkehr ins heimische Brooklyn, hat der nigerianisch-amerikanische Gast wohl mehr von der Schweiz gesehen als manch einer, der hier geboren ist. Wenn er an den Wochenenden sein temporäres Zuhause am Zürcher Hegibachplatz verliess, um das Land und seine Leute zu erkunden, wandelte zwar auch er meist auf Pfaden, die Scharen von Touristen vor ihm schon beschritten hatten: Er war in den Bergen, in den zehn grössten Städten und in allen Sprachregionen des Landes.

Teju Cole, Schriftsteller und Fotograf.

Teju Cole, Schriftsteller und Fotograf.

Sophie Rüesch

Ein neuer Fremder im Dorf

Angezogen haben ihn dabei aber weniger die Postkartensujets, die der Schweiz nach aussen ihr Gesicht geben. Mehr als Rütli und Matterhorn interessierte ihn zum Beispiel Leukerbad, der Geburtsort eines der scharfsinnigsten Essays über Rassendiskriminierung im Amerika der Fünfzigerjahre: «Der Fremde im Dorf», in dem der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin den naiven Rassismus der Bewohner des verschlafenen Walliser Dorfs einem noch viel perfideren in der Heimat gegenüberstellt.
Baldwins Beobachtungen setzte Cole seine eigenen entgegen, während in Ferguson der amerikanische Rassenkrieg erneut aufflammt. 60 Jahre sind zwischen den Besuchen der beiden Schriftsteller durchs Land gezogen, in denen die Leiden der schwarzen Amerikaner sich lediglich auf andere Schauplätze verschoben haben. Die Geschichte wurde im «New Yorker» veröffentlicht, später auch im «Magazin» des Tages-Anzeigers.

Eigentlich wollte Cole die Gelegenheit des Schreibstipendiums vor allem dazu nutzen, sich in die Arbeit an seinem aktuellen Projekt zu vertiefen: einem Sachbuch über Lagos, die Stadt seiner Jugend — und das komplette Gegenteil von Zürich. Schon zu Beginn seines Aufenthalts freute er sich auf den Kontrast, den das Schreiben über die reizüberflutende, geschäftige Hauptstadt Nigerias — «dem wohl desorganisiertesten Ort, den ich kenne» — im beschaulichen Zürich — der «wohl ordentlichsten Stadt der Welt» — versprach.

Mit offener Linse durch das Land

Doch er wäre nicht Teju Cole, wenn ihn die angeborene Neugier nicht auch hier dazu gezwungen hätte, den Geschichten zu folgen, die vor ihm liegen. «Ich kann nicht an einem Ort leben und mich nicht mit ihm beschäftigen», sagt er. Und so entspringt seinem Aufenthalt wohl doch noch ein Buch über die Schweiz — ein Bildband. Stoff hat er dafür genug: Die Foto-CDs stapeln sich bis an die Decke seiner Zürcher Wohnung. «Ich habe wahrscheinlich mehr Zeit mit Fotografieren als mit Schreiben verbracht», sagt er. Mit einem Verlag in Amerika ist er bereits im Gespräch; am liebsten wäre ihm eine Veröffentlichung auch in der Schweiz.
Fotografiert hat Teju Cole schon immer; auch sein zweites Buch «Every Day Is for the Thief» ist mit eigenen Bildern aus Lagos illustriert. Doch die Schweiz hat ihn zu einer Bildsprache inspiriert, die ihm ganz neu ist. Schuld sind, wie könnte es anders sein: die Berge. Wie viele Touristen vor ihm konnte auch Cole sich ihrem Bann nicht entziehen, schoss wie besessen Bild um Bild, bis er merkte: «Die grossen Fotografien der Schweizer Berge existieren bereits. Ich kann hier nichts Neues erfinden.»

Die Resignation war von kurzer Dauer. Anstatt den Berg wie gewohnt in der Totalen zu knipsen, begann er, sich auf Spiegelungen, Brüche, ungewohnte Winkel zu konzentrieren. «Ich suchte dreizehn Arten, einen Berg zu betrachten», sagt er in Anspielung auf das berühmte Gedicht des amerikanischen Modernisten Wallace Stevens. «Manchmal», schreibt er in einem Fotoessay, das eine Auswahl der Schweizer Bilder enthält und soeben im Magazin «The New Inquiry» erschienen ist, «ist es eine Frage des Herunterschauens. Da ist ein Berg, der einem Bild eines Bergs gegenübersteht. Da ist eine Frau, deren Geschichte nicht in ihrem Gesicht, sondern auf ihrem Nacken geschrieben steht. Da liegt eine Stadt zu deinen Füssen, und diese ist die echte Stadt.»

Jenseits der Postkarten

Von der Postkartenschweiz kam er in seinen Fotografien immer weiter weg. Mit den komplexer werdenden Bildern ging auch ein wachsendes Geschichtsbewusstsein einher. «Leute von ausserhalb denken über die Schweiz als Land ohne Geschichte nach. Doch natürlich hat sie eine Geschichte: eine, die in mancher Hinsicht sehr eigen war.» Er meint das im Guten wie im Schlechten.

Hinter die Fassade zu blicken, kam manchmal überraschend. So sagt er etwa: «Ich bin mit der festen Überzeugung hierher gekommen, dass die Schweiz mit Skandinavien obenauf ist in Sachen Gleichstellung.» Dann hat er vom Appenzell-Innerrhodischen Einführungsdatum des Frauenstimmrechts und der Lohnungleichheit gehört. Erfahren, dass die Schweiz eine eigene und lange Geschichte des Antisemitismus kennt. Er hat die Sache mit der Neutralität kritisch zu hinterfragen gelernt, die Schweiz als Söldnervolk kennen gelernt.

Andersrum ist es ihm ähnlich ergangen. Seine Schweizer Bekannten hätten ihn anfangs auf ein Volk der schüchternen, zurückgezogenen Eidgenossen bereit gemacht, die nichts von Fremden wissen wollen. Dabei seien all die Schweizer, die ihn in Zürich im Tram ansprachen, kein bisschen weniger aufgeschlossen und herzlich gewesen, als man es den Amerikanern nachsagt.

Das neue Heimweh wartet

Es ist eine besondere Ironie der Geschichte, dass Cole, dessen Werk sich so stark um Zugehörigkeit und Ausgrenzung, um Selbst- und Fremdwahrnehmung der eigenen Herkunft dreht, gerade jetzt in Zürich weilte: im Jahr 2014, das ungeachtet des sonntäglichen Abstimmungsergebnisses als Jahr der Zuwanderungsinitiativen in die Schweizer Geschichte eingehen wird. Den 9. Februar hat Cole noch von Amerika aus mitbekommen. «Ich dachte: ‹Grossartig: Genau jetzt, wo sie beschlossen haben, dass sie keine Besucher möchten, komme ich›», erinnert er sich mit einem herzhaften Lachen.

Natürlich, sagt er, Anti-Immigrations-Stimmung sei ein weltweites Problem. Dennoch: Von der Schweiz, Heimat der UNO, des Roten Kreuzes, der Weltgesundheitsorganisation, hätte er irgendwie mehr erwartet. «Es besteht ein starker Kontrast zwischen dem, was die Schweiz für die Welt sein könnte und der Richtung, in die sie sich zurzeit bewegt», sagt er. Und trotz all dem, ist sich Teju Cole sicher, wird auch er bald das Heimweh verspüren, das den Schweizer Geist so stark definiere. «Ich war sehr glücklich hier», sagt er. «Die Schweiz ist ein sehr komplexes Land. Ein Land, das ich dennoch sehr zu lieben gelernt habe.»

Die Frau im Tram Im Tram der Nummer 15 sass eine Frau im Sitz vor mir. Sie war Ende 20. Spätnachmittaglicht. Ihre Haare waren hochgesteckt und ich konnte ihr Nackentattoo klar erkennen. Es bestand aus zwei Zeilen: einem Frauennamen und einem Datum. Ich habe mir beides notiert. Später, als ich den Namen recherchiert habe, fand ich einen alten Zeitungsartikel. Eine Frau mit diesem Namen war im Jahr 2007, an diesem Datum, in einer Kleinstadt in der Nähe von Phoenix, Arizona, gestorben. Im Auto befanden sich in dieser Nacht, so der Artikel, zwei weitere Personen, die den Unfall beide überlebten und die zu diesem Zeitpunkt beide, wie die Frau, die gestorben ist, Anfang 20 waren. Die Überlebenden waren ein Mann und eine weitere Frau. Ihre Namen waren angegeben.  

Die Frau im Tram Im Tram der Nummer 15 sass eine Frau im Sitz vor mir. Sie war Ende 20. Spätnachmittaglicht. Ihre Haare waren hochgesteckt und ich konnte ihr Nackentattoo klar erkennen. Es bestand aus zwei Zeilen: einem Frauennamen und einem Datum. Ich habe mir beides notiert. Später, als ich den Namen recherchiert habe, fand ich einen alten Zeitungsartikel. Eine Frau mit diesem Namen war im Jahr 2007, an diesem Datum, in einer Kleinstadt in der Nähe von Phoenix, Arizona, gestorben. Im Auto befanden sich in dieser Nacht, so der Artikel, zwei weitere Personen, die den Unfall beide überlebten und die zu diesem Zeitpunkt beide, wie die Frau, die gestorben ist, Anfang 20 waren. Die Überlebenden waren ein Mann und eine weitere Frau. Ihre Namen waren angegeben.  

Text und Fotos: Teju Cole aus «Yashica» erschienen in «The New Inquiry»