Teil des Waldes soll weg, damit die Schweiz wachsen kann

Die Schweiz steht vor einem Richtungsstreit um die Entwicklung. Soll sie Wälder roden und Autobahnen bauen, um die Folgen der Zuwanderung aufzufangen? Oder soll sie bei der Mobilität die Notbremse ziehen?

SaW Redaktion
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Blick auf Bern Richtung Schönbühl. Foto: Schweizer Luftwaffe

Blick auf Bern Richtung Schönbühl. Foto: Schweizer Luftwaffe

Schweiz am Wochenende

Der eine bricht das Tabu Wald. «Im letzten Jahrzehnt wuchs der Wald im Kanton Bern um über 700 Hektaren, gleichzeitig schreitet die Entleerung des Alpenraumes auch in Bern fort», sagt Christoph Neuhaus, Regierungspräsident des Kantons Bern. Dem Kanton Bern fehlten aber die Entwicklungsmöglichkeiten auf der Achse Thun-Bern-Biel. Deshalb müsse der Wald zum Thema werden. «Wir brauchen eine Flexibilisierung der Waldfläche», sagt er. «Man muss sich überlegen, ob der Kanton Bern die 700 Hektaren Wald, die in den letzten zehn Jahren zusätzlich wuchsen, kompensieren kann. Oder zumindest einen Teil davon.» Im Klartext: Der Wald soll im dicht besiedelten Mittelland, das an seine Wachstumsgrenzen stösst, teilweise für Wohnen und Arbeit weichen.
Der andere das Tabu Auto. «Es braucht einen Ausbau der Strassen. Es braucht deutlich mehr Kapazitäten, auch bei den Autobahnen. Es braucht mehr Parkplätze», sagt Morten Hannesbo, Chef der Amag-Gruppe, im Interview. Er fordert einen grundlegenden Mentalitätswandel in der Schweiz: «Wir können ohne Auto nicht leben. Das muss die Politik endlich einsehen.» Die Autobahn bezeichnet er als «die ökologischste Form, mit dem Auto von A nach B» zu kommen. «Unverständlich» sei deshalb, dass der Bundesrat zwar eine zweite Gotthardröhre bauen wolle, dabei aber «die Kapazität nicht erhöht» werden soll. «Die Schweiz wächst, die Bevölkerung wächst, die Wirtschaft wächst – und hier soll gebremst werden?» Die Schweiz müsse das Wachstum «umarmen».
In der Schweiz zeichnet sich ein massiver Richtungsstreit um die Entwicklung des Landes ab. Auf der einen Seite stehen die Wachstumsbefürworter wie Neuhaus und Hannesbo. Sie plädieren für weniger Wald und mehr Strassen. Auf der anderen Seite die Befürworter eines Systemwechsels. Wie etwa ETH-Professor Anton Gunzinger und andere Verkehrsexperten. Sie fordern einen Ausbaustopp für Strasse und Schiene. Der Verkehr soll seine Kosten selber tragen, sagten sie im «Tages-Anzeiger». Sie wollen einen schnellen Wechsel hin zu Mobility Pricing. Und sie wollen die Fahrkilometer über happige Preisaufschläge deutlich reduzieren: Ein Liter Benzin soll künftig knapp 10 Franken kosten. Und ein Generalabonnement für die SBB soll doppelt so teuer werden wie heute.
Seit Zürich die Kulturland- und die Schweiz die Zweitwohnungsinitiative angenommen haben, ist Raumplanung zum Brennpunkt geworden. Mit dem Ja zur Revision des Raumplanungsgesetzes habe sich die Bevölkerung «für einen sorgfältigeren Umgang mit dem knappen Gut Boden ausgesprochen», schreibt der Schweizerische Städteverband in der Oktober-Ausgabe von «Focus». Auch die ETH Zürich nimmt sich des Themas an einer Tagung vom Freitag an unter dem Titel «Wird die Schweiz zur Stadt?». Verdichten und in die Höhe bauen (siehe unten) sind zu Zauberworten geworden.
An Verdichten und In-die-Höhe-Bauen denkt auch Neuhaus. «Man wird in die Höhe bauen müssen», sagt er, «darum kommt man nicht herum.» Das alleine genüge aber nicht. Denn der Kanton Bern müsse vor allem in den gut erschlossenen Lagen auf der Achse Thun-Bern-Biel auch in die Fläche wachsen können. Was zurzeit nicht möglich sei.
Neuhaus betont, es gehe ihm nicht darum, sofort Bäume zu fällen und 700 Hektaren «auf einen Schlag und am selben Ort» zu roden. Es gehe ihm um eine Flexibilisierung im Mittelland in Fällen, in denen die Entwicklung anstosse. «Das Mittelland wird zum Wohn- und Arbeitsraum, für den Erholungsraum muss man aufs Land gehen», glaubt er. «Das ist die Konsequenz. Aber die Entwicklung läuft schon heute in diese Richtung.»
Für den Berner Regierungspräsidenten ist klar: «Bill Gates wird seine Computerprogrammierer nie im Justistal bei Sumiswald ansiedeln.» Es gehe darum, die Entwicklung «dort aufzufangen, wo es der Markt verlangt». Deshalb sei eine Entwicklung im Mittelland zentral. Dafür brauche es «neue Denkansätze». Für die ganze Schweiz. Aber vor allem auch für den Kanton Bern, «der ein Stück weit wachstumsfeindlich» sei.
Mit Migrationssaldo und Geburtenüberschuss habe die Schweiz pro Jahr 100 000 zusätzliche Einwohner. «2035 werden wir 10 Millionen Einwohner zählen. Wir müssen uns Gedanken machen», sagt der Regierungspräsident. «Zwei Millionen zusätzliche Menschen benötigen 1,3 Millionen zusätzliche Wohnungen.» Mit Denkverboten komme man nicht mehr weiter. «Der Wald ist ein Tabu», sagt Neuhaus. «Doch wir müssen diese Dinge grundlegend diskutieren und überdenken. Sonst werden wir eines Tages dazu gezwungen.»
Dass er mit seiner Forderung nach einer «Flexibilisierung des Waldes» ein «Sakrileg» begeht, wie er selbst gesteht, ist ihm bewusst. Sogar in seiner eigenen Partei, der SVP, werde er teilweise «auf Granit stossen», glaubt er. Immerhin war es die SVP der Stadt Bern, die vorsorglich Unterschriften gegen das umstrittene Projekt «Waldstadt Bremer» sammelte. Das Architekturbüro Bauart plant ein Quartier für bis zu 8000 Menschen, so gross wie die Berner Altstadt. Dafür soll ein Teil des Bremgartenwaldes weichen. Die SVP-Initiative kommt bis Sommer 2014 zur Abstimmung.
Die Schweiz lebe noch im Bewusstsein der Sünden der Industrialisierung, glaubt Neuhaus. Im 19. Jahrhundert hatte die Industrie den Wald stark zurückgedrängt, was 1876 zum Rodungsverbot führte. Seither nimmt die Waldfläche wieder zu. Zwischen 1983 und 2006 hat sie sich um total 98 077 Hektaren oder 8,3 Prozent vergrössert, wie der Bericht «Entwicklung der Waldfläche: Einflussfaktoren und Szenarien» zeigt, den Ernst Hasler + Partner 2010 im Auftrag des Bundesamts für Umwelt (Bafu) verfassten.
Der Wald dehnte sich vor allem auf der Alpensüdseite und in den Alpen aus, vor allem in höheren Lagen ab 1800 Metern über Meer. Im Jura und in den Voralpen nahm er leicht zu, im Mittelland blieb er praktisch konstant. Die Situation hat sich entspannt. Das veranlasste den Bundesrat, am 14. Juni den Rodungsersatz in der Waldverordnung leicht zu flexibilisieren. In bestimmten Fällen darf man nun vom Grundsatz des Realersatzes, also der Aufforstung, in derselben Gegend abweichen. Und Kantone können in Gebieten, in denen sie eine Zunahme des Waldes verhindern wollen, eine statische Waldgrenze festlegen.
Umweltministerin Doris Leuthard befasst sich hinter den Kulissen inzwischen mit den Folgen einer möglichen 10-Millionen-Schweiz. Leuthard hatte dazu Mitte August eine Departementsklausur durchgeführt. «Die Klausur ging der Frage nach, was eine 10-Millionen-Schweiz bedeuten würde», sagt Sprecherin Anetta Bundi. «Und welche Herausforderungen damit verbunden wären.» Für das Uvek sei es wichtig, sich mit solchen Fragen auseinanderzusetzen. «Weil es wichtige Infrastrukturdossiers betreut und auch für die Raumentwicklung zuständig ist.»
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