Swissness made in Kosovo

Postautos, Swisscoy, Mundart: Schweizer Einflüsse prägen den Alltag im jüngsten Staat Europas – wie ein Besuch diese Woche in der Hauptstadt Pristina zeigt.

Pedro Lenz
Drucken
Architektonische Einzigartigkeiten: Die National- und Universitätsbibliothek in Pristina. Links die nie fertiggestellte orthodoxe Kathedrale «Christus der Erlöser». Foto: Shutterstock

Architektonische Einzigartigkeiten: Die National- und Universitätsbibliothek in Pristina. Links die nie fertiggestellte orthodoxe Kathedrale «Christus der Erlöser». Foto: Shutterstock

Schweiz am Wochenende

Pfingstmontag. Es ist 11 Uhr 45. In fünf Minuten sollte der Flug LX 8404 von Zürich nach Pristina abheben. Sollte, noch immer suchen viele Passagiere ihren Platz. Drei kosovarische Männer mittleren Alters möchten in einer Reihe zusammensitzen. Jeder von ihnen hat ein Fläschchen Rivella in der Hand. Einer der Männer fragt mich auf Englisch, ob es mir egal wäre, mit ihm den Sitzplatz zu tauschen. Ich frage ihn auf Deutsch, wie sie diese Rivella-Fläschchen ins Flugzeug gebracht haben, bei diesen strengen Sicherheitsvorschriften. «Isch keine Problem, isch nur Rivella!», sagt der Mann lachend und bedankt sich für den Platztausch. Aus seiner Jackentasche lugt der rote Schweizer Pass hervor.
Neben mir sitzt ein Fachoffizier der Schweizer Armee, auch er ist an diesem Mittag unterwegs in die Hauptstadt der Republik Kosovo. Bald wird er zu seinen Kameraden der Swisscoy stossen, jener rund zweihundert Mann starken Truppe, die seit 1999 mithilft, den Frieden im Kosovo zu fördern und bei Bedarf die zivilen Behörden unterstützt. Schweizer Süssgetränke, Schweizer Armeeangehörige, Schweizer Staatsbürger mit kosovarischem Background, ein Schweizer Flugzeug mit überwiegend kosovarischen Fluggästen, überall ist die Verbindung zwischen der Alpenrepublik und dem jungen Staat in Südosteuropa spürbar.
Jedem seinen Boulevard
Es ist kühl und nass am frühen Nachmittag im Pristina. Auf dem Weg vom Flughafen in die Innenstadt überholen Autos mit dem CH-Aufkleber neben dem kosovarischen Kontrollschild. Je näher man der Innenstadt kommt, desto dichter wird naturgemäss der Verkehr. Viele Hauptstrassen sind nach Persönlichkeiten benannt, die mit der jüngsten Geschichte des Kosovo in enger Verbindung stehen. UÇK-Kämpfer Agim Ramadani hat seinen Boulevard genauso wie der im Kosovo-Krieg gefallene Schriftsteller Enver Maloku oder der Albanologe Eqrem Çabej (1908– 1980), der sich als Linguist, Literaturwissenschafter und Volkskundler um die albanische und kosovo-albanische Kultur verdient gemacht hat. Aber auch die Freundschaft zur Schutzmacht USA wird hochgehalten, etwa mit dem Bulevardi Xhorxh Bush.
Kaum verlässt der Wagen diese Hauptachsen, wird es prekär. Die engen Strassen sind überall zugestellt mit parkierten Autos, sodass jedes Kreuzungsmanöver hohe Fahrkunst erfordert. An manchen Orten sind selbst die Trottoirs mit Wagen vollgestellt, was die Fussgänger zwingt, auf der Strasse zu gehen, wodurch der Autoverkehr zusätzlich gebremst wird. Dass in der Innenstadt grosszügig gebaut wird, macht das Problem auch nicht kleiner. Kaum gebremst durch allfällige Bauordnungen oder Richtpläne, wachsen zurzeit überall in Pristina Neubauten in die Höhe. Das Geld für die Immobilien kommt oftmals aus der Diaspora.
Im Hotel Afa, wo ich für meinen kurzen Aufenthalt untergebracht bin, spricht mich Riza, der Hotelportier, in einer wohlklingenden Mischung aus Schweizer- und Hochdeutsch an. In den 1980er-Jahren habe er im Toggenburg gearbeitet, in Unterwasser im Hotel Säntis. Eine gute Zeit sei das gewesen, aber dann habe er für den Militärdienst in der jugoslawischen Armee zurückkehren müssen. Dadurch habe er sich die Möglichkeit auf einen Jahresaufenthalt in der Schweiz verspielt, was er heute noch bereue.
Eine Schwester lebe noch in Wattwil, sie und der Schwager seien unterdessen Schweizer. Wie er denn über die dreissig Jahre, die seit seiner Zeit im Toggenburg vergangen seien, seine Deutschkenntnisse habe bewahren können, frage ich den Portier. «Gelernt isch es gelernt», sagt er. Ausserdem habe er fast zehn Jahre für die UN-Mission im Kosovo gearbeitet.
Schweizer Flaggen und Postautos
Solche und ähnliche Geschichten werde ich in den folgenden zwei Tagen noch mehrfach zu hören bekommen. Im Kosovo mit seinen 1,85 Millionen Einwohnern gibt es kaum eine Familie, die nicht familiäre Bande zur Schweiz oder zu Deutschland hat. Entsprechend ist die deutsche Sprache in Pristina allgegenwärtig. Aber nicht bloss an der Sprache, auch an vielen Flaggen, an Schweizer Postautos, die in Pristina als Linienbusse eingesetzt werden, sowie an einer grossen Zahl Reiseagenturen mit Namen wie «Swiss Travel» oder «Agjensioni Berna» lässt sich ablesen, wie eng verbunden die Stadt mit der Schweiz ist. Täglich stehen vor der Schweizer Botschaft viele Menschen in einer Warteschlange. Sie bemühen sich um ein Reisevisum in die Schweiz, um Verwandte oder alte Bekannte besuchen zu können.
Auf dem ersten Spaziergang durch die Innenstadt begegne ich einem merkwürdigen Gebäudekomplex mit 99 Kuppeln. Es handelt sich bei dieser architektonischen Auffälligkeit um die 1982 erbaute National- und Universitätsbibliothek des Kosovo. Die Bibliothek, deren eigenwillige Ästhetik bis heute zu reden gibt, ist ein Werk des kroatischen Architekten Andrija Mutnjaković. Unweit davon steht die unverputzte Kathedrale «Christus der Erlöser», die seit Jahren im Rohbau belassen wird. Slobodan Milošević habe den Bau des orthodoxen Gotteshauses ab 1995 forciert. Es hätte ein Statussymbol der serbischen Vorherrschaft über die Region werden sollen, erklärt mir der kosovarische Schriftsteller und Theaterautor Jeton Neziraj, den ich beim informellen Abendessen im Haus der stellvertretenden Missionschefin der Schweizer Botschaft treffe. Vor dem Kriegsbeginn 1999 habe es gerade noch gereicht, das grosse, goldene Kreuz auf der Dachkuppel zu montieren. Seither stehe die Kirche im Rohbau dort. Die Kosovaren wollen nicht, dass sie fertiggebaut wird, und die serbische Bevölkerungsminderheit des Kosovo will nicht, dass sie abgerissen wird.
«Mirëmëngesi Kosovë»
Am Dienstagmorgen bin ich mit dem politischen Attaché der Schweizer Botschaft ins kosovarische Staatsfernsehen eingeladen. Wir sollen im Frühprogramm «Mirëmëngesi Kosovë» («Guten Morgen Kosovo») ein Livegespräch über Schweizer Literatur und über das Verhältnis des Kosovo zur Schweiz bestreiten. Nach diversen technischen Startschwierigkeiten beginnt die Sendung mit einigen Minuten Verspätung. Niemand im TV-Studio lässt sich deswegen aus der Ruhe bringen. Die Moderatorin startet mit der Frage, welches Verhältnis ich zum Kosovo hätte. Auf Englisch versuche ich zu erklären, mein Verhältnis beschränke sich auf persönliche Beziehungen zu Menschen aus dem Kosovo, die in der Schweiz lebten.
Entweder war mein Englisch mangelhaft oder der Simultanübersetzer war ein Spassvogel – oder beides. Jedenfalls erfahre ich nach der Sendung, die Übersetzung meiner Worte habe gelautet: «Ich habe in der Schweiz schon mit verschiedenen Personen aus dem Kosovo geschlafen.» Zum Glück haben der Attaché und ich während der Sendung noch keine Ahnung von diesem Missverständnis. So können wir insgesamt doch noch einen einigermassen seriösen Beitrag zur Völkerverständigung liefern.
Nach dieser Sendung erhalte ich eine kompetente Stadtführung von einer Einheimischen. Lina arbeitet hauptberuflich als Tänzerin im «Shota», dem nationalen Ensemble für Gesang und Volkstanz. Das Ensemble «Shota» wurde 1948 gegründet und ist heute die einzige staatliche Tanzkompanie des Kosovo. «Shota»-Mitglied Lina lebte als Kind neun Jahre im deutschen Ravensburg. Nach dem Kosovo-Krieg zog ihre Familie nach Pristina. Hier beendete sie ihre Schulbildung und liess sich zur Tänzerin ausbilden. Inzwischen ist sie Mutter zweier Kinder.
Der Besuch bei der Tanzgruppe
Lina bemüht sich, als Tänzerin und gelegentliche Stadtführerin finanziell über die Runden zu kommen. «Ich würde unglaublich gern einmal Ravensburg besuchen, die Stadt meiner Kindheit. Aber mit meinem Monatslohn von 320 Euro und mit allen bürokratischen Hürden, die überwunden werden müssen, um ein Reisevisum zu erhalten, liegt ein Besuch in Deutschland für mich zurzeit nicht drin.» Ihr Hochdeutsch ist noch immer akzentfrei.
Nach einem Besuch der katholischen Mutter-Teresa-Kathedrale und des Fussballstadions des FC Prishtina ermöglicht mir die temporäre Reiseführerin einen Besuch der Probe der erwähnten Tanzgruppe.
Täglich proben hier rund dreissig Männer und Frauen. Die Musik zu den Proben wird vom achtköpfigen Orchester live gespielt. «Einst waren wir eine ethnisch und sprachlich gemischte Truppe», erklärt der Tanzleiter auf Französisch. Seit dem Krieg haben wir nun nur noch albanische Mitglieder.» Ob er diesen Umstand bedauert oder begrüsst, möchte der Mann nicht sagen. «C’est comme ça et voilà», meint der Tanzlehrer und bekennende Fussballfan, wohlwissend, wie heikel alle Themen sind, die sich auf ethnische oder politische Nationalismen beziehen. Weniger vage äussert er sich, als ich ihn frage, ob er glaube, dass die Schweizer Fussballer mit kosovarischen Wurzeln bald für den Kosovo auflaufen. Nein, die Stars von heute gehörten zur Schweiz und sollen auch für die Schweiz spielen, ist er überzeugt.
Ausgerechnet Rothrist
Dass der Kosovo ausser der serbischen und der albanischen historisch noch eine starke osmanische Prägung hat, merkt man nicht bloss daran, dass viele von Pristinas Moscheen in den letzten Jahren mit türkischer Unterstützung renoviert wurden. Das ethnologische Museum der Stadt ist im ehemaligen Gut des wohlhabenden osmanischalbanischen Kaufmanns Emin Gjiku untergebracht. Die erhaltene Einrichtung der Häuser aus dem 18. Jahrhundert erzählt von den Bräuchen und Lebensweisen in osmanischer Zeit. Er könne sich durchaus vorstellen, meint Bekim Xhemili, der Kurator des Ethnologischen Museums, schmunzelnd, dass in zweihundert Jahren Chalets im Schweizer Stil zu diesem Museum gehören. «An ihnen könnten dann spätere Generationen den Einfluss der Schweiz auf unseren Alltag ablesen.»
Diese engen Bande zwischen der Schweiz und dem Kosovo kommen mir am Abend bei der Lesung in der wunderschön eingerichteten Hamam-Jazz-Bar zugut. Neben Expats und Studierenden der germanistischen Fakultät sind viele junge Einheimische anwesend. Sie verstehen sowohl mundartliche als auch hochdeutsche Textpassagen und diskutieren nach der Lesung an der Bar munter mit. Einer erzählt, seine Eltern hätten in Rothrist ein Haus gebaut. Ausgerechnet Rothrist, da kommt doch Rivella her, geht es mir durch den Kopf, während wir mit Birra Prishtina anstossen.
Mehr Themen finden Sie in der gedruckten Ausgabe oder über E-Paper