Schweiz forscht an grünem Atomreaktor

Das Paul-Scherrer-Institut forscht an neuartigen Atomreaktoren – beim Bundesamt für Energie sieht man das nicht gern.

Beat Schmid
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Luftaufnahme der Synchrotronlichtquelle beim Paul-Scherrer-Institut. Foto: Markus Fischer

Luftaufnahme der Synchrotronlichtquelle beim Paul-Scherrer-Institut. Foto: Markus Fischer

Schweiz am Wochenende

Mehr als 700 Forscher arbeiten am Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Villigen im Kanton Aargau. Das Institut ist benannt nach dem Schweizer Experimentalphysiker Paul Scherrer, der in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Atomenergiepolitik in der Schweiz massgeblich prägte und während 40 Jahren an der ETH lehrte. Jetzt will das berühmte Forschungsinstitut mit Atomenergie offenbar nichts mehr am Hut haben.
Die Anfrage der «Schweiz am Sonntag», mit einem Spezialisten für künftige Reaktortechnologien zu sprechen, wurde von der Kommunikationsabteilung mit der Begründung abgelehnt, das Institut wolle vor der Nationalratsdebatte über den Atomausstieg von nächster Woche zu Fragen der Nuklearenergie nicht Stellung nehmen. Dabei wird am Institut durchaus noch Atomforschung betrieben. Etwa 200 Mitarbeiter (13 Prozent des Budgets) umfasst dieser Bereich. Doch von den Fördermillionen, die der Bundesrat für Forschungsprojekte im Rahmen der von ihm verfolgten Energiewende zur Verfügung stellte, fliesst kein einziger Rappen in die Atomphysik. Viele Gelder fliessen in Biomasse-Projekte und Stromspeicherung.
Trotzdem ist die Tür zur nuklearen Zukunft nicht ganz verschlossen. Dass dem so ist, ist unter anderem einer Reise wichtiger Vertreter der Schweizer Energiebranche in die USA im Juli 2014 zu verdanken. Das Bundesamt für Energie (BFE) und die Schweizer Vertretung in den USA organisierten gemeinsam die Swiss-US Energy Days in Boston. Die Veranstaltung zielte darauf ab, die «besten schweizerischen Energietechnologien, Projekte und Innovationen in einer der weltweit wichtigsten Forschungs- und Innovationsregionen für grüne Technologien vorzustellen und neue Partnerschaften zu knüpfen». 70 Schweizer Forscher, Vertreter von Unternehmen und Verbänden folgten dem Aufruf. Als bundesrätliche Patronin der Veranstaltung flog auch Energieministerin Doris Leuthard über den grossen Teich.
Die junge Leslie Dewan war einer der ganz wenigen Gäste aus den USA, die an diesem teuren Lobby-Anlass überhaupt teilnahmen. Doch die Materialwissenschafterin mit Doktorabschluss des berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) passte nicht so recht ins «grüne» Konzept der Schweizer Event-Veranstalter. Denn Dewans Interesse gilt der verpönten Nukleartechnologie. Mit ihrem Startup-Unternehmen Transatomicpower arbeitet sie an neuartigen Atomreaktorkonzepten, die bereits in naher Zukunft die Energieversorgung komplett auf den Kopf stellen könnten. So zumindest lautet das Versprechen.
Bereits in drei Jahren will ihr Unternehmen einen hochmodernen Reaktor zur Marktreife bringen, der wirtschaftlich (Kostenpunkt: 2 Milliarden Dollar) und vor allem sehr sicher sein sowie praktisch keinen atomaren Abfall hinterlassen soll. Dewans Wundermaschine basiert auf dem Konzept von sogenannten Flüssigsalzreaktoren (Molten-Salt Reactor, MSR), die bereits in den 1960er-Jahren in den USA erforscht, dann aber wieder fallen gelassen wurden. Dewan erregt mit ihrem Startup grosse Aufmerksamkeit: Bereits die «New York Times», das «Forbes»-Magazin und die «Washington Post» berichteten über das Unternehmen.
Wie ein Augenzeuge der Bostoner Veranstaltung bestätigt, sorgte Dewan für heftige Irritationen bei der versammelten Schweizer Energiewendeelite. Den BFE-Direktor Walter Steinmann – als ehemaliger SP-Gemeinderat von Niedergösgen seit je ein grosser AKW-Skeptiker – soll die charmante Dewan fast zur Verzweiflung gebracht haben. Denn die Wissenschafterin rüttelt mit ihren Forschungen an einem seiner fundamentalen Glaubenssätze: Die Atomenergie ist schlecht und hat keine Zukunft.
Doch die Naturwissenschafterin rieb Ökonom Steinmann noch weitere unangenehme Argumente unter die Nase: MSR-Kernenergie kann mit ausgebrannten Brennstäben betrieben werden. So ist es möglich, den in Zwischenlagern schlummernden atomaren Abfall praktisch komplett zu vernichten. Am Schluss bleiben noch 3 Prozent des ursprünglichen Materials übrig, das zudem deutlich weniger stark strahlt. Lino Guzzella, ETH-Rektor und designierter Präsident der Hochschule, sowie Alexander Wokaun, stellvertretender Direktor des PSI, liessen sich offenbar überzeugen und versprachen, Forschungen um neuartige Atomreaktoren auch unter der neuen energiepolitischen Konstellation weiterzuverfolgen. So darf auch das PSI weiter die neuesten Nuklear-Forschungen verfolgen und künftig eigene Forschungsprojekte durchführen.
Ob die Nukleartechnik je eine Renaissance erleben wird, steht freilich in den Sternen. AKW haben nach Fukushima einen noch viel schlechteren Ruf als früher. Dazu kommt, dass sich der Bau herkömmlicher Reaktoren oft jahrelang verzögert und die Kosten aus dem Ruder laufen. Was bedeutet, dass die Anlagen, wenn sie dann ans Netz gehen, oft nicht wirtschaftlich betrieben werden können. In England beispielsweise muss der Atomstrom eines neuen Meilers mit Steuergeldern subventioniert werden. Die UBS hat jüngst in einer Studie geschrieben, dass aktuelle AKW der zweiten Generation höchstens noch während der nächsten 10 bis 20 Jahre wirtschaftlich betrieben werden können.
Transatomicpower arbeitet an der vierten Generation. Die Kosten pro Kilowattstunde sollen dereinst bei drei Cent liegen, was ein äusserst attraktiver Preis wäre. Economiesuisse, der Dachverband der Schweizer Wirtschaft, hat die Atomkraft noch nicht abgeschrieben. Geschäftsleitungsmitglied Kurt Lanz, der auch für den Bereich Energie beim Verband zuständig ist, war ebenfalls auf der Reise in die USA und kennt die Arbeiten von Dewan. «Wir sollten diese Technik unbedingt weiterverfolgen.» Lanz hat mit dem Uvek, dem Departement von Doris Leuthard, über diese «Recycling-Reaktoren», wie er sie nennt, gesprochen und angeregt, sie ins Programm «Grüne Wirtschaft» aufzunehmen. Diese verlangt klimaneutrale Energieproduktion, den Aufbau einer Recycling-Wirtschaft und die Schliessung von Kreisläufen. All diese Kriterien würden die neuen Reaktoren von Leslie Dewan erfüllen.
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