Grossbritannien wählt am 7. Mai. Die Politik ist polarisiert, die Wirtschaft läuft gut. Doch was ist mit der Kultur?
London ist eine Art Konglomerat von Städten, alle mit eigenem Charakter und einem losen Draht zum Börsenviertel – The City – oder zum Coolness-Zentrum Shoreditch. Es ist ohne weiteres möglich, in Hampstead oder Notting Hill zu leben, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie trüb es anderswo aussieht.
In Tottenham wohnt zum Beispiel die Sängerin Nadine Shah, die gerade ein viel beachtetes Album veröffentlicht hat. «Zum ersten Mal» sei «eine Situation entstanden, wo junge kreative Menschen die Hauptstadt verlassen müssten», erklärte sie unlängst in einem Interview. «Meine Wohnung in Stoke Newington, die so angenehm war wie eine Crack-Höhle, kostete mich ein Vermögen, so zog ich nach Tottenham.» Das einzige einigermassen schicke Café hier sei das Restaurant im Ikea-Laden: «Manchmal habe ich das Gefühl, die Stadt will mich verarschen.»
Es entbehrt nicht der Ironie, dass das florierende Dreieck Mode–Kunstgewerbe–Internet zwischen Spitalfields, Hackney und Bethnal Green unmittelbar neben der ebenfalls florierenden City liegt. Die Menschen, die hier leben, teilen sich in muslimische Immigranten und Secondos in Sozialbauwohnungen und erfolgreiche junge Entrepreneure. Es wimmelt von Shops, die Erzeugnisse von Fashion- und Kunststudenten feilhalten oder mit auf Leinwand gedruckten (Raub-)Abbildungen von Banksy-Graffiti vollgehängt sind. Ganz zu schweigen von unzähligen, selten billigen Bars, die ein Doppelleben als supertrendige Galerien führen.
Die bunte Mischung aus Exotik und junger Geschäftigkeit vermittelt den Eindruck von unbändiger Kreativität, zumal überall auch noch Graffiti, Wandmalereien und Junk-Skulpturen zu bewundern sind. Kein Wunder, schwärmen britische Regierungen jeder Prägung seit den besten Tagen von Britpop und den sogenannten Young British Artists (Tracey Emin, Damien Hirst etc.) in höchsten Tönen von der Kreativindustrie und betonen deren Wichtigkeit für den Ruf und die Handelsbilanz von Grossbritannien. Es werden neue Kommites und Studien geschaffen, die der britischen Kreativitätsindustrie im internationalen Markt Vorteile verschaffen sollen.
Dabei soll das kreative Schaffen so systematisiert werden, dass ein Student effizient und zielstrebig einer profitablen Karriere zusteuern kann. Ein Möchtegern-Pop-Star hat inzwischen allein in London die Wahl von einem halben Dutzend Schulen, wo ihm das Metier von Grund auf beigebracht wird. Der Erfolg britischer Künstler wie Jessie J., George Ezra und Adele zeigt, dass die Methoden nicht unbedingt verwerflich sind.
Auf quantitativer Ebene hat der Ausstoss der britischen Kreativindustrie seit Margaret Thatcher gewaltig zugenommen. Die stilistische Vielfalt der Erzeugnisse ist indes arg geschrumpft. Die kulturellen Einflüsse aus der Karibik und dem indischen Subkontinent, die in den 80er-Jahren prägnante und originelle Akzente zu setzen vermochten, sind heute so weit in einen einzig nach kommerziellen Gesichtspunkten gesteuerten Mainstream integriert worden, dass sie kaum mehr wahrnehmbar sind. Oder dann spielen sie sich in einem der Quartiere ab, das den Draht zum erfolgreichen, kommerziell florierenden Zentrum verloren hat.
Das Übel begann in den 80er-Jahren: Stipendien für Studenten wurden durch Darlehen ersetzt, und es wurde wesentlich schwieriger, Arbeitslosenunterstützung zu beziehen. Was gut fürs Staatsbudget war, wirkte sich umso schlechter auf die Kreativität aus. Denn die britische Kultur hatte seit den Beatles und Stones davon profitiert, dass Studenten und Arbeitslose ungeachtet ihrer Herkunft mit staatlicher Unterstützung Zeit und Raum erhielten, ihre künstlerischen Visionen in die Tat umzusetzen. Stellte sich der Erfolg ein, wurden dem britischen Staat die Zuwendungen über Steuern beglichen.
Dieser künstlerische Freiraum ist leider verloren gegangen. Die Künstler stehen heute unter Erfolgszwang. Wer keinen Erfolg hat, wird vom Arbeitsamt an ein Fliessband gestellt.
Noch grösseren Schaden haben die Budgetkürzungen in den öffentlichen Schulen angerichtet. Theater, Musik, Kunst und sogar Sport fielen als Erstes aus dem Stundenplan. Nur noch Kinder aus wohlsituierten Familien können es sich leisten, ein anderes Instrument als Gitarre oder Computer zu erlernen. Es bleibt allenfalls noch der Karriereschritt einer Castingshow.
Es überrascht wenig, dass die englischen Charts heute von Privatschulabsolventen und Castingshow-Gewinnern geprägt sind. Ähnliches gilt für alle anderen Zweige der Kreativindustrie. So reduziert der Staat das Reservoir an kreativen Köpfen, das es für eine erfolgreiche Kreativindustrie braucht, auf einen winzigen Pool von Privilegierten.
Diese Missstände sind wie das Bildungswesen überhaupt kein Thema im Vorfeld der anstehenden Parlamentswahlen am 7. Mai. In der Publikation «28Days» (28days.org.uk), wo Künstler und Schriftsteller aufmüpfige Ideen, Gedanken und Forderungen äussern können, ist kaum ein prominenter oder glamouröser Name zu finden. Am ehesten mobilisiert noch die Comedy-Szene. Über die Diskussionsbeiträge von Russell Brand lässt sich streiten.
Schlauer ist der «Pub Landlord» alias Al Murray, der mit skalpellhaftem Witz den «gesunden Menschenverstand» seziert: Er hat sich im gleichen Wahlbezirk wie UKIP-Chef Nigel Farage als Kandidat angemeldet. Die meisten anderen Künstler schweigen. Sie zeigen wenig Interesse, politische Messages zu pinseln oder zu singen. Im konservativen britischen Klima fürchten sie um ihren Ruf und ihre Karriere.
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