«Pokémon Go»? Nie im Leben!

Das neue Handyspiel «Pokémon Go» macht gerade die halbe Welt verrückt. Unsere Autorin lässt lieber die Finger davon. Wegen Suchtgefahr.

SaW Redaktion
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Teenager treffen sich zu «Pokemon Go» in Hartselle, Alabama. Doch treffen sie sich wirklich, oder stehen sie bloss da? Foto: Crystal Vander/ AP

Teenager treffen sich zu «Pokemon Go» in Hartselle, Alabama. Doch treffen sie sich wirklich, oder stehen sie bloss da? Foto: Crystal Vander/ AP

Schweiz am Wochenende

Von Anna Miller
Spätestens jetzt sind wir alle verrückt geworden. Seit rund einer Woche ist das Game «Pokémon Go» in Amerika auf dem Markt, und kein Stein ist auf dem anderen geblieben. Die Menschen irren wie Verrückte durch die Strassen, ihre Smartphones vor dem Gesicht, und starren auf ihre Bildschirme, um irgendwelche absurden Tiergestalten zu finden und zu fangen. Nicht mehr wie früher in dunklen, muffigen Kellerabteilen und allein, sondern in der Gruppe. Wahrscheinlich essen und trinken sie über Stunden nichts, rufen ihre Mutter nie an und haben kein Sozialleben.
Also im Grunde alles wie immer. Nur dass es jetzt die ganze Gesellschaft ist, die sich anstecken lässt, und nicht ein paar hilflose Nerd-Herzen, denen das Gamen im Blut steckt. In Horden hocken sie nun im Central Park in New York, in Museen, in Stadien, auf Pausenplätzen nebeneinander und zocken sich um den Verstand. In der Schweiz ist das Game noch nicht einmal auf dem Markt, da haben Schweizer Online-Portale dafür schon einen Newsticker eingerichtet. Neuste Meldung vor Beginn des Schreibens dieses Textes: Ein junger Typ ist mit seinem Auto gegen einen Baum gefahren, weil er beim Fahren ein Tierchen einfangen wollte.
Die grosse Angst vor der Sucht
Ich für meinen Teil werde «Pokémon Go» nicht spielen. Niemals. Ich werde mich dem Hype nicht beugen, komme, was wolle. Ich will es gar nicht sehen, geschweige denn herunterladen. Weil ich dem Untergang unserer zivilisierten Gesellschaft lieber von aussen zusehe und darüber noch einen letzten Text schreibe. Und weil da diese Angst vor der Sucht ist.
Wir Gamer wissen, wovon ich spreche. Denn ich bin ein Game-Nerd. Zumindest war ich das einmal. Und so etwas heilt nicht. Das ist lange her, es war in den Neunzigern, diesem dunklen Jahrzehnt, als Kindsein noch Spass machte und wir uns im Wochenrhythmus mit vorsintflutlichen technologischen Neuerungen überboten, daneben aber noch ein ziemlich normales Durchschnittsdasein in der Realität dieser Welt verbrachten, mit Velotouren, Farmer-Stängel, dem Sammeln von Panini-Stickern zum Film «Der König der Löwen» und selbst geknüpften Armbändchen. Aber auch mit Tamagotchis, mit dem ersten Nintendo. Ich habe mich durch Nächte, durch Ferien, durch Tage gespielt. Ich habe im Internat unter all den Jungs auf der Sega-Konsole gespielt, «Sonic» natürlich. Ich habe meine ersten Erfahrungen am PC mit «Quake» gemacht und mit Strategie-Spielen wie «Civilisation» und später mit den Sims.
Ich habe mit acht Jahren vor den Sommerferien mit Fabio aus meiner Klasse einen Deal ausgehandelt, dass ich ihm seine Super Nintendo mit zwei Controllern für lächerliche 90 Franken abkaufen kann (ein Vermögen, mit acht!), dazu hat er mir noch diesen fabelhaften Aufsatz geschenkt, mit dem ich meine Gameboy-Games in Farbe auf der Konsole spielen konnte. Ich war für konkrete sechs Wochen Aargauer Sommerferien und gefühlte Jahre eines Kinderlebens im siebten Spieler-Himmel. Ich habe «Super Mario» gespielt, «Donkey Kong» und später «Pokémon».
Ich bin ein Gamer-Kind, ein echtes, ein ursprüngliches. Ich habe meine Wurzeln im «Tetris». Das war lange bevor es irgendwelche 3-D-Animationen und Virtuelle Realität überhaupt gab. Meine virtuelle Realität war die Virtualität. Nichts mit echtem Leben. Sondern das Abtauchen in Märchenwelten.
Ich hätte bei «Pokémon Go» abgesehen davon ja nicht einmal die Zeit, bei heissem Wetter in die Badi zu gehen, weil ich wie ein Zombie von einem Ort zum nächsten laufen muss. Das heutige Gamen ist eben nicht mehr, was es einmal war. Man muss fast schon Sport machen. Mehr Sport als bei «Guitar Hero» auf jeden Fall. Auf dem Rücken liegen und sich den Gameboy mit Paketband in die Handfläche wickeln, damit er ohne Anstrengung in der Hand kleben bleibt, das liegt leider nicht mehr drin. Wie anstrengend diese neue Game-Welt geworden ist.
Bei Nebel und bei Sonne zocken
Ich kann bei «Pokémon Go» daneben auch nur schwer telefonieren oder meine Mails checken, wie ich das bei Sims könnte, wenn die Figuren einnicken oder sich beim Einkaufen unterhalten. Und ich müsste mich, auch schlimm, zusammen mit anderen komplett apathischen Gamer-Soziopathen in wunderschönen, jahrhundertealten Parks dicht gedrängt an einen Brunnen setzen, um das Pokémon-Game zu spielen, und mit all diesen Menschen koexistieren, ohne dass wir uns dabei für den anderen interessieren.
Ob das früher auch so war? Meine Eltern dachten das wahrscheinlich damals schon. Ich für meinen Teil fand das alles ziemlich kollegial.
Als Kind hat man noch Zeit, sein Leben zu verschwenden. Ich weiss nicht, wie die erwachsenen Leute das heutzutage machen, mit dem Gamen und dem Leben, mit dem Zocken und Arbeiten und daneben noch Sex haben, kochen, Kinder bekommen und sterben. Ich würde nur noch zocken, ganze Tage lang, bei Nebel, bei Sonne. Ich würde auf die Pause-Taste meines Lebens drücken und dann nie wieder aus der Unterwelt auftauchen.
Und im Gegensatz zu früher würde mich nichts und niemand daran hindern, mein Leben an den Nagel zu hängen. Strom gibts ja immer, das Internet ist sowieso endlos, und keiner muss mehr unterbrechen, um neue Batterien zu holen.
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