Wirtschaftsverbände behaupten, Einwanderung gehe zurück – doch 2013 wird sie erneut steigen.
Es sind nervöse Tage in Bern: Im Abstimmungskampf um die Masseneinwanderungsinitiative der SVP wird jede Statistik über die Einwanderung zur potenziellen Dynamitstange. Bereits jetzt sorgen sich die Gegner der Initiative vor den Zuwanderungszahlen für 2013, die kurz vor dem Abstimmungstermin vom 9. Februar bekannt werden dürften. Diese Meldung, befürchtet etwa FDP-Präsident Philipp Müller, könnte auf dem Höhepunkt der Kampagne einschlagen wie eine Bombe.
Tatsächlich zeigt sich schon heute, dass sich die Zuwanderung im laufenden Jahr beschleunigt hat. Die Einwanderungsbilanz des Vorjahres dürfte übertroffen werden. Nur in einem von neun erfassten Monaten dieses Jahres lag die Wanderungsbilanz – die Differenz zwischen Ein- und Auswanderern – tiefer als 2012. Das zeigt der monatliche Zuwanderungsmonitor des Bundesamts für Migration (BFM).
Allein von Januar bis September sind demnach 59 643 Ausländer mehr in die Schweiz ein- als ausgewandert – ein Zuwachs von 13,6 Prozent gegenüber dem gleichen Zeitraum 2012. Davon machen EU-Bürger mit 45 778 Personen den grössten Anteil aus. Auf das ganze Jahr hochgerechnet ergibt sich eine Nettozuwanderung von rund 80 000 Personen. Damit würde der Vorjahreswert von rund 73 300 Zuwanderern deutlich übertroffen.
Der Trend widerspricht dem Bild, das die Wirtschaftsverbände derzeit von der Entwicklung der Zuwanderung zeichnen. «Es gibt keine Masseneinwanderung», sagte am Freitag Valentin Vogt, der Präsident des Arbeitgeberverbands. Bewusst mit niedrigeren Zahlen operiert auch Economiesuisse. Der Wanderungssaldo habe 2012 «nur noch 45 200» Personen betragen, sagte Economiesuisse-Präsident Heinz Karrer vergangene Woche in der «Schweiz am Sonntag».
Der Wirtschaftsdachverband stützt sich in seiner Kampagne auf Zahlen des Bundesamts für Statistik (BFS), das eine andere Berechnungsgrundlage verwendet als das Migrationsamt. Ausgeklammert bleiben in der Erfassung des BFS Personen, die nicht zur ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz zählen, weil sie eine Aufenthaltsdauer von weniger als 12 Monaten haben. Dazu gehören Asylbewerber. Auch Personen, deren Aufenthaltsstatus wechselt, fallen nicht unter diese Statistik.
Dennoch räumt auch Economiesuisse-Kampagnenleiter Oliver Steimann ein, dass die Zuwanderung 2013 «wohl etwas zunehmen» werde: «Wegen der guten konjunkturellen Lage suchen die Exportunternehmen wieder vermehrt Arbeitskräfte, die sie nicht alle im Inland finden können.»
Längst hat die Nervosität den Bundesrat erreicht. Der freisinnige Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann zitierte kürzlich seinen Arbeitsmarktchef Boris Zürcher zu sich. Der Spitzenbeamte des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) hatte die Zuwanderung in einem Interview mit der «Schweiz am Sonntag» engagiert verteidigt – ein wenig zu engagiert, wie man offenbar in Schneider-Ammanns Partei fand.
Der Platz sei in der Zuwanderungsfrage kein Problem, hatte Zürcher gesagt: In New York lebten schliesslich gleich viele Menschen auf einem Viertel der Siedlungsfläche der Schweiz. Solche euphorische Voten könnten der SVP in die Hände spielen, fürchten die Gegner der Initiative.
Material liefert der SVP auch die Debatte über arbeitslose EU-Bürger. Bisher hatte die Regierung stets behauptet, dass nur in die Schweiz kommen könne, wer einen gültigen Arbeitsvertrag habe. Arbeitslose EU-Bürger dürften nicht einreisen. Diese Woche musste der Bundesrat im Parlament jedoch Zahlen veröffentlichen, die zeigen, dass allein 2012 über 4000 Stellensuchende eine Kurzaufenthaltsbewilligung erhielten. Brisant ist dies vor dem Hintergrund der Diskussion über die Zuwanderung in die Sozialwerke, die viele EU-Staaten vor allem aus osteuropäischen Ländern befürchten.
Auf Nachfrage schlüsselt das BFM nun erstmals detailliert auf, auf welche Nationalitäten sich die Kurzaufenthaltsbewilligungen für Arbeitslose verteilen. Die grösste Gruppe sind die Portugiesen, gefolgt von den Deutschen. Bewilligungen erhielten aber auch Personen aus den neuen EU-Staaten Rumänien und Bulgarien, für welche die volle Personenfreizügigkeit noch nicht gilt: Von 2010 bis September 2013 waren es 731.
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