Willi Erzberger, rasender Reporter und 84 Jahre alt, startet mit einer Grossauflage ins 2017.
Es ist mittags um Viertel nach zwölf. Zeit für Willi Erzberger, sich an einen Ecktisch im Restaurant Klybeck Casino zu setzen. Er wolle aufs Bänkli, das sei sein Platz, sagt er. Sein Blick ist finster. «Warum treffen wir uns überhaupt? Hast du nichts Besseres zum Schreiben?», meckert er, bestellt ein Glas Primitivo und liefert die Antwort gleich selbst, jetzt mit geschmeicheltem Unterton. «Weisst du, ich bin der älteste noch aktive Journalist in Basel. Tagaktiv, schon lange nicht mehr nachtaktiv.»
Mehr als fünfzig Jahre sei er nun «dabei», sagt der Mann, der gelernter Zolldeklarant ist, aber irgendwie «da reingerutscht ist». «Ich habe schon immer gerne geschrieben, und ich bin ein Sonntagskind. Denen fällt das Glück in den Schoss.» Er habe schon über alles berichtet, nicht nur über den Radsport, sondern zu Beginn über Rollhockey, dann über Curling, Turnfeste, Eishockey und Fussball sowieso. Über den Mordfall Seewen – «ich war der erste Reporter vor Ort, weil ich mich beim Polizeifunk eingeklinkt hatte» –, über die Handelskammer und über Restaurants. Und die Basler Fasnacht sowieso. Jahrelang war er nicht nur Lokal- und Sportreporter bei der «Nationalzeitung» und später der «Basler Zeitung», er war auch Stammgast in den Klatschspalten, meist zusammen mit seiner Frau Vreni. Weil er ein Grosser war, ein guter Unterhalter, der an den Anlässen im Dunstkreis der Basler Prominenz nicht fehlen durfte. Und er ist es immer noch, ein Grosser. Ein grosser Basler Journalist. Wohl auch einer der letzten. «Schreib aber ja nicht ‹Big Willi›», poltert er. Diesen Namen wolle er nicht mehr hören. «Und dass ich eine lebende Legende bin, auch nicht.»
Was ist er denn, der Willi Erzberger, 83 Jahre und 11,5 Monate alt? Ein Medien-Original, nie um einen Spruch verlegen? Ein Wahlbeobachter, ein Gastro-Szeni? Ein profunder Radsportkenner, der in den vergangenen fünfzig Jahren keine Tour de France verpasst hat, oder einfach nur ein Raubein? «Ich bin Reporter», sagt Erzberger, und bestellt sich eine Käseschnitte. «Wahrscheinlich mag ich nicht den ganzen Teller, ich bin schneller satt als früher.»
Die neue Welt verstehen
Das Reporterleben scheint Erzberger nicht sattzuhaben; auch im neuen Jahr denkt er nicht daran, sich zur Ruhe zu setzen. Nach den Sonderausgaben vor den Grossratswahlen erscheint Ende Januar erstmals die «Spalentor Zeitung» als jeweils vierseitiger Anteil in der «Gundeldinger Zeitung». Neun entsprechende Ausgaben soll es im 2017 geben, die erste kommt als Grossauflage mit 40 000 Exemplaren. Mit Erzberger als Chefredaktor. Warum überlässt er das nicht einem jungen Kollegen? Thomas Weber von der «Gundeldinger Zeitung» habe ihn angefragt, er habe nicht Nein sagen können. «Es fällt mir schwer aufzuhören. Was sollte ich sonst tun? Mir wäre stinklangweilig.»
Irgendwie kann man das verstehen. Erzberger war sein Leben lang eine Rampensau, lebte das Reporterleben mit Leib und Seele, verbrachte in manchen Jahren seine Nächte öfter in Hotelzimmern in Spanien, Frankreich oder Kanada als im heimischen Bett bei seiner Frau. Er war so nah dran, dass er sich einmal sogar in Lebensgefahr begab: 1995 geriet er beim Giro d’Italia am Col Agnel in eine Lawine, als er die verschneite Strecke mit dem Auto abfuhr. Er kam mit dem Schrecken davon und schrieb am selben Abend den Bericht für die «Basler Zeitung».
Erzberger will neben seinem Engagement bei der «Spalentor Zeitung» die Kollegen beim Lokalsender «Telebasel» weiterhin mit Tipps unterstützen, «auch wenn sich die jungen Leute nicht mehr so viel sagen lassen. Aber ich lege Wert auf diese Zusammenarbeit. Sie hilft mir, die neue Welt besser zu verstehen.» Ein Smartphone wolle er sich trotzdem nicht anschaffen – «ich will kein Sklave einer solchen Sch...kiste, eines solchen Volksverdummungsgerätleins sein» –, sein «Emporia», ein Senioren-Handy, reiche völlig. Das aktuelle Tagesgeschehen verfolge er intensiv, «auch ohne die sogenannten sozialen Medien». Die heutige Art des virtuellen Kommunizierens stosse ihn täglich mehr ab, sagt Erzberger. Er bewege sich lieber in der Realität. Sein Revier: Das Kleinbasel, auch wenn er betont, dass er bekennender Gesamtbasler sei. «Schliesslich bin ich im Gundeli aufgewachsen.» Ausserdem sei er, und das habe er «jahrzehntelang» verheimlicht, Doppelbürger von Basel und Liestal.
In dem Erzbergschen Ausgangsradius befinden sich neben dem Klybeck Casino das Concordia, das Schofegg und das Ysebähnli. Sie gehören zu seinen Stammbeizen. Und das Restaurant zum Schiefen Eck sei «mein zweites Wohnzimmer». Dort will er sich später mit dem Fotografen treffen. «Da ist kein Schickimicki, sondern bodenständiges Volk». Und dazu, so sagt er, während er die Gabel weglegt, gehöre er seit jeher. Auch dank seiner Frau. «Sie hat mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, und vor allem hat sie mich ausgehalten. Ich bin ein ohnmächtiger Siech.» Seit drei Jahren ist das Paar räumlich getrennt. Sie ist aufs Land gezogen, er wollte in der Stadt bleiben. «Ich bin Haushaltslehrling im dritten Jahr. Früher habe ich nie staubgesaugt oder bin einkaufen gegangen.» Das würde ihn jetzt jung halten. Genauso wie das Wandern im Oberbaselbiet, wenn er seine Frau besucht. «Solche Auszeiten brauche ich, um weitermachen zu können. Und das will ich, bis mich der Tod holt!»
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