Vor ihrem Treffen mit Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel spricht Bundespräsidentin Doris Leuthard (47) über das belastete Verhältnis zu unseren Nachbarländern, die Folgen des Minarett-Verbots und das Grossbanken-Problem. Und sie sagt, warum sie Kuchen in die Bundesratssitzung mitbringen will.
VON PATRIK MÜLLER UND OTHMAR VON MATT
Frau Bundespräsidentin, Sie treffen die Mächtigen der Welt fast im Wochentakt. Wie wichtig sind diese Zusammenkünfte?
Sehr wichtig. Letztes Jahr hatten wir mit fast allen Nachbarländern und auch mit den USA grosse Schwierigkeiten. Direkte Gespräche mit den Präsidenten helfen, diese Probleme zu bereinigen.
Was hat Sie an diesen Treffen überrascht?
Dass die Schweiz allen Unkenrufen zum Trotz ein hohes Ansehen geniesst.
Trotz Minarett-Verbot, Steuerflucht und Bankgeheimnis?
Natürlich sind gewisse Staaten erstaunt. Vor allem auf den Minarett-Entscheid werde ich im Ausland immer wieder angesprochen. Doch inzwischen hat sich die Islam-Diskussion – zum Teil ausgelöst durch die Abstimmung in der Schweiz – auf ganz Europa ausgeweitet. Ich sehe den Volksentscheid zu den Minaretten mittlerweile sogar als Chance, das Bewusstsein für den Umgang mit dem Islam und anderen Religionen zu schärfen. Die Schweiz hat einen grossen Leistungsausweis punkto Integration. Generell kann sie eine wichtigere Rolle spielen. Wir haben in der Vermittlung grosse Erfahrung.
Welche Rolle meinen Sie?
Wir haben vieles einzubringen in Fragen, die grenzüberschreitend von Bedeutung sind. Seien es die Guten Dienste etwa im Fall Türkei/Armenien. Oder seien es Beiträge zur nächsten Klimakonferenz in Mexiko oder zur Wirtschaftspolitik – ich denke insbesondere an den Protektionismus und das «too-big to fail»-Problem bei den Grossbanken. Da haben wir Lösungsansätze, die andere Staaten interessieren. Aber wir müssen schneller und kreativer werden.
Ist die Schweizer Politik zu langsam?
Organisationen wie die G-20 und die EU nehmen sich aktueller Themen sehr rasch an. Unser System, die direkte Demokratie mit den vielen Volksabstimmungen und all den Vernehmlassungsverfahren, ist träger. Dessen müssen wir uns bewusst sein. Der Bundesrat widmet sich in Klausuren daher vermehrt spezifischen, dringenden Themen. Wir warten nicht mehr, bis das federführende Departement die Vernehmlassungsvorlage vorlegt.
Die Volksrechte lassen ein allzu hohes Tempo gar nicht zu.
Unsere Volksrechte haben sich zweifellos bewährt. Reden kann man allenfalls über die Anzahl Unterschriften, die es für Referenden und Initiativen braucht. Da die Bevölkerung stark gewachsen ist, erachte ich eine Diskussion darüber als berechtigt.
Sind 50000 Unterschriften für ein Referendum zu wenig?
Diese Zahl mag vor 30 Jahren angemessen gewesen sein, heute ist sie sicher zu tief.
Welche Unterschriftenzahl wäre denn angemessen?
Ich nenne keine Zahl. Man muss das relativ zur Bevölkerung festlegen. Eine prozentuale Erhöhung der Unterschriftenzahl wurde allerdings schon bei der Revision der Bundesverfassung diskutiert und dann verworfen. Inzwischen hat sich die Situation mit dem starken Bevölkerungswachstum aber weiter verändert. Auch über die Rolle des Parlaments kann man diskutieren.
Inwiefern?
Gesetzgeberisch dauert es heute sehr lange, bis das Parlament involviert wird – oft zu lange. National- und Ständerat wollen früher Einfluss nehmen, sie möchten bei den aktuellen Themen am Ball sein. Das zeigt sich in den Kommissionen: Die Parlamentarier wollen von den Bundesräten über Themen informiert werden, die international in den Schlagzeilen sind. Unser System sollte dem Rechnung tragen.
Am Atomgipfel hat Barack Obama Sie persönlich begrüsst. Wie wirkte er?
In so kurzer Zeit kann man keinen Menschen einschätzen. Beeindruckt hat mich, wie er durch den Gipfel führte. Er war konzentriert, ging auf einzelne Voten ein, hörte zu, reagierte. Man spürte sein persönliches Engagement und die Wertschätzung, die er allen entgegenbrachte. In den Kaffeepausen und während der Apéros sprach er mit allen. Ich empfand ihn als Politiker, der wirklich etwas verbessern will.
Konnten Sie beim Kaffee noch mit ihm sprechen?
Am Apéro, ja.
Geht es da um Smalltalk? Oder sprachen Sie das wichtigste Thema zwischen der Schweiz und den USA an: den Staatsvertrag zum Fall UBS?
Ich sprach ihn darauf an. Und ich teilte ihm mit, dass die Schweiz Ideen für die internationale Finanzarchitektur hat und auf gute Zusammenarbeit hofft.
Spürten Sie Goodwill oder Ablehnung?
Präsident Obama ist bewusst, wie wichtig der Schweizer Finanzplatz ist. Und er strebt Lösungen an, denn die USA haben mit dem Konkurs der Investmentbank Lehman Brothers und vieler kleinerer Banken schwierige Erfahrungen gemacht.
Was würde geschehen, wenn das Parlament das Amtshilfeabkommen ablehnt?
Ein Nein würde die bilateralen Beziehungen trüben. Es käme zweifellos zu Irritationen. Wir und auch die UBS hätten Probleme, wenn es wieder zu Klagen käme – und dann wäre aus Zeitdruck allenfalls der Ruf nach Notrecht zu hören, was es zu vermeiden gilt. Die Kritik gewisser Kreise am Abkommen erstaunt mich deshalb. Denn die Schweizer Regierung hat mit der US-Regierung einen Vertrag abgeschlossen, um einen rechtsstaatlich korrekten Weg zu gehen. Das wurde im letzten August allseits begrüsst. Die Lösung betreffend die potenziellen 4450 Steuersünder basiert auf dem bisherigen Doppelbesteuerungsabkommen, ergänzt mit einer klaren Regelung bei der Steuerhinterziehung. Ich hoffe, dass das Parlament unterscheidet zwischen dem Abkommen und offenen Fragen wie «too big to fail» und den Boni-Regelungen. Der Bundesrat will diese Probleme lösen, aber es ist nicht möglich, alles miteinander zu verknüpfen.
Sie treffen kommende Woche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wie wurde das möglich?
Unsere Länder sind beide bestrebt, die anstehenden Probleme zu lösen. Davon profitieren beide – sowohl die Schweiz als auch Deutschland: Immerhin sind wir Deutschlands sechstgrösster Wirtschaftspartner, und Schweizer Firmen bieten in Deutschland 260000 Arbeitsplätze an. Dazu kommen die Deutschen, die in der Schweiz einen Job finden.
Das scheint Deutschland wenig zu kümmern: Es macht massiv Druck auf die Schweiz.
Ich möchte in meinem Präsidialjahr deshalb einen Fokus auf Deutschland legen. Die traditionell engen Beziehungen sind ein solides Fundament zur Lösung der offenen Fragen. Aufgrund seiner Situation in Europa, seiner hohen Verschuldung und der innenpolitischen Situation hat auch Deutschland ein Interesse an einer guten Zusammenarbeit mit der Schweiz. Das hat Frau Merkel erkannt. Im September kommt zudem der deutsche Bundespräsident Horst Köhler auf Staatsbesuch. Wir müssen zu geordneten Verhältnissen zurückkehren – auch im Umgangston.
Zu einer Art Freundschaft, wie sie es in der Ära Kohl gab?
Ja. Dafür kann ich auch Parteikanäle nutzen. CVP und CDU haben seit Jahren gute Beziehungen.
Angela Merkel gilt nicht gerade als Schweiz-Freundin.
Da bin ich nicht so sicher! Sie verbringt regelmässig ihre Ferien in der Schweiz. Aber: Sie ist eine Politikerin, die ihre Interessen ganz klar verfolgt.
Sie pflegen die bilateralen Kontakte intensiv. Aber ist dieser Weg nicht ein Auslaufmodell? Verleger Michael Ringier fordert, der EU-Beitritt müsse wieder zum Thema werden.
Der Bilateralismus mit der EU hat seinen Preis, und die Verhandlungen werden für die Schweiz zunehmend schwierig. Die EU orientiert sich strikte an den Positionen, die sie ihren Mitgliedern gegenüber hat. Sie erwartet von allen ihren Partnern, dass sie das Gemeinschaftsrecht und dessen Fortentwicklung übernehmen. Das strapaziert unsere Souveränität. Der Bundesrat wird in einem Bericht aufzeigen, wo er die Situation positiv beurteilt und wo er Probleme im Bilateralismus ortet.
Michael Ringier kritisiert, dass sich die Schweiz von der SVP ein EU-Denkverbot auferlegen lässt.
Diese Einschätzung teile ich nicht. Europa-Fragen sind in der Schweiz ständig ein Thema, allein schon wegen der zahlreichen Volksabstimmungen dazu. Auch der Bundesrat setzt sich jährlich mit der Europa-Frage auseinander. Ich gehe davon aus, dass wir dieses Jahr noch eine Bundesratsklausur dazu durchführen.
Als Wirtschaftsministerin macht Ihnen der schwache Euro Sorgen: Er verteuert die Schweizer Exporte.
Wir haben ein Interesse daran, dass der Euro stark und stabil ist, was er im Moment nicht ist. Deshalb sind wir froh über das Griechenland-Paket. Griechenland muss Reformen umsetzen, im Zweifelsfall ist der Euro-Raum mit dem Internationalen Währungsfonds bereit, mit Krediten zu helfen. So hoffe ich, dass sich der Euro – weil noch andere Mitglieder hohe Staatsverschuldungen aufweisen – nicht noch weiter schwächt. Das wäre für unsere Exportindustrie bedrohlich.
Die EU-Staaten haben sich massiv verschuldet. Wie gross ist das Risiko für die Schweiz?
Das ist eine Gefahr, die jüngst auch der Internationale Währungsfonds deutlich machte. Es gibt in den Euro-Ländern nur drei Rezepte: Entweder fahren die Staaten einen Sparkurs – das beeinträchtigt auch die Schweizer Wirtschaft. Oder sie erhöhen die Steuern. Oder sie werten ihre Schulden über eine Inflation ab. All diese Szenarien bergen Risiken für die konjunkturelle Erholung, die sich in der Schweiz abzeichnet. Besser als in Europa sieht es in Asien, Lateinamerika und den USA aus.
Heisst das: Die Schweiz sollte ihre Wirtschaftskontakte ausserhalb Europa intensivieren?
Mit rund 70 Prozent bleibt Europa der wichtigste Handelspartner. Um die Risiken zu dämpfen und von den Wachstumsmärkten profitieren zu können, müssen wir in der übrigen Welt aber schneller Freihandelsbedingungen schaffen als die EU. Das gelang bisher nicht schlecht; etwa mit Japan. Wir hoffen, noch 2010 in einigen Ländern weiterzukommen: etwa mit Indien und der Ukraine. Mit Russland und China hoffe ich, Verhandlungen eröffnen zu können. Auch Thailand und Indonesien stehen auf der Traktandenliste.
Die Schweizer Wirtschaft erholt sich erstaunlich schnell. Ist das der lang ersehnte Aufschwung?
Wir haben mit dieser schnellen Erholung nicht gerechnet, und auch Unternehmer, die sich vor kurzem pessimistisch äusserten, zeigen sich nun plötzlich zuversichtlich. Die Wende haben wir zu einem schönen Teil der Flexibilität und Innovationskraft der KMU zu verdanken. Ich bleibe dennoch vorsichtig: Es gibt Regionen, die hinterherhinken. Rückschläge sind jederzeit möglich – auch weil die Folgen der hohen Verschuldung vieler europäischer Staaten schwer absehbar sind.
Wie beurteilen Sie den am Donnerstag vorgestellten «too big to fail»-Bericht, wonach verhindert werden soll, dass es je wieder Staatshilfe für Grossbanken braucht?
Der Zwischenbericht ist noch etwas vage und muss aus meiner Sicht ergänzt und konkretisiert werden. Gefreut hat mich, dass sich alle Mitglieder der Expertengruppe geeinigt haben, also auch die Grossbankenvertreter. Mein erster Eindruck: Die Richtung stimmt, die Eigenmittel- und Liquiditätsanforderungen müssen erhöht werden. Es geht darum, die Risiken für den Steuerzahler zu minimieren – auch ein systemrelevantes Unternehmen muss geordnet in Konkurs gehen können. Der Bundesrat wird dieses Thema am Mittwoch vertiefen. Es müssen noch einige Elemente angesprochen werden. Klar ist, es besteht Handlungsbedarf. Auch die Finanzmarktaufsicht muss früher wirken, um zu verhindern, dass der Staat nochmals in letzter Minute eingreifen muss.
Nur UBS und CS, nicht aber andere Banken oder Versicherungen werden als systemrelevant eingestuft. Zu Recht?
Die Expertengruppe des Bundes stuft die Versicherungen nicht als systemrelevant ein. Hier kam die Wirtschafts-Denkfabrik Avenir Suisse zu einem anderen Schluss. Das muss man sicher noch vertiefen: Zumindest diejenigen Versicherungen, die im Refinanzierungsgeschäft tätig sind, haben bankenähnliche Risiken.
Swiss Life, die frühere Rentenanstalt, hat eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung.
In der Tat, deshalb muss man das bei der Konkretisierung der Massnahmen noch einmal prüfen. Es ist ja erst ein Zwischenbericht.
Sie erhielten in den ersten vier Monaten Ihres Präsidialjahres viel Lob. Was für eine Bilanz ziehen Sie selber?
Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Es kann noch viel passieren. Mir ist wichtig, dass der Bundesrat als strategisch denkende Behörde wahrgenommen wird – als Regierung, die führt und die wichtigen Probleme anpackt. Dem Präsidium kommt dabei eine moderierende, vermittelnde Funktion zu. Der Bundesrat muss das Vertrauen, das er eingebüsst hat, wieder zurückgewinnen. Natürlich kann ich das nicht allein.
Offenbar spielen Sie eine ziemlich aktive Rolle, wenn es zwischen Bundesräten Meinungsverschiedenheiten gibt.
Wir müssen ein Team sein und die Departementalisierung überwinden, ich führe daher oft Gespräche. Viele Probleme lassen sich nur departementsübergreifend lösen.
Früher haben Sie sogar einmal Kuchen zu einer Sitzung mitgebracht...
Das sollte ich mal wieder tun! (lacht) Das Klima im Gremium ist enorm wichtig. Denn jeder Bundesrat ist ein Stück weit einsam: Er muss Entscheidungen treffen zu Geschäften, die er – ausserhalb des Bundesrats – mit niemandem wirklich besprechen kann, weil sie vertraulich sind. Deshalb müssen wir einander gegenseitig helfen und eine gute Diskussionskultur pflegen. Wir gehen oft auch gemeinsam Mittagessen nach den Sitzungen...
... kommen alle Bundesräte mit?
Nicht immer. Obwohl es wichtig wäre. Solche informellen Essen darf man nicht unterschätzen, man kann Ideen unverbindlich besprechen – und es fördert das gegenseitige Vertrauen, wenn man sich auch ausserhalb des Bundesratszimmers austauscht.
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