Mit Susanne Wille (41) moderiert erstmals eine Frau den Wahltag im Schweizer Fernsehen. Im Interview spricht sie über Frauen im Journalismus, Rassismus im Internet – und darüber, wie sie als Kind an der Fasnacht politisiert wurde.
Frau Wille, am 18. Oktober moderieren Sie zwölf Stunden lang den eidgenössischen Wahltag. Erstmals führt damit eine Frau durch die Wahlsendung. Warum gibt es so wenige Frauen im Politik-Journalismus?
Susanne Wille: Ja, das frage ich mich auch. Eine einfache Antwort gibt es nicht. Grundsätzlich kann ich sagen: In diesem Business muss man eine dicke Haut haben, einstecken können und damit rechnen, dass man aneckt. Doch für mich gibt es nichts Spannenderes. Übrigens: Die Wahlsendung wird auch von einer Frau geleitet, und die leitende Produzentin ist ebenfalls eine Frau.
Wünschen Sie sich mehr Frauen auf der «Rundschau»-Redaktion?
Ich bin der Meinung, dass Themenmix und Diskussionen auf einer Redaktion interessanter sind, wenn das Team gemischt ist. Dennoch ist die Qualifikation entscheidend, unabhängig ob Mann oder Frau. Aber Unterstützen ist wichtig. Wenn ich mit einer engagierten Frau zusammenarbeite, setze ich mich für sie ein. Denn ich hatte selbst auf meinem Weg immer wieder Menschen, die mich unterstützt und gefördert haben. Die mir bei anspruchsvollen Projekten, wie der Live-Moderation am WEF, gesagt haben: Los, das schaffst du!
Ein Ungleichgewicht beim Geschlechterverhältnis gibt es auch in Politik und Wirtschaft. Beide Branchen werden von Männern dominiert.
Ja, das ist erstaunlich. Ich kenne viele intelligente Frauen, die sich für Politik interessieren. Doch der Frauenanteil liegt im Nationalrat erst bei etwas mehr als 30 Prozent und im Ständerat bei weniger als 20 Prozent. Es braucht von allen Seiten Engagement, um den Frauenanteil zu erhöhen. Dabei geht es vor allem um eine Verbesserung bei der Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Wie gehen Sie damit um, beim SRF-Fernsehen neutral sein zu müssen?
Als Moderatorin weiss ich, dass ich eine Scharnierfunktion habe zwischen Beitrag und Publikum. Meine persönliche politische Meinung spielt hier keine Rolle. Es geht um ein journalistisches Prinzip: Bei der «Rundschau» ist es unser Auftrag, unbequeme Fragen zu stellen und die Macht zu hinterfragen. Da ist es eine logische Folge, dass der Zuschauer eine kritische Haltung spürt. Das hat aber nichts mit Parteipolitik zu tun.
Sind Sie in Ihrer Karriere auch schon über Ihre politische Haltung gestolpert?
Nein, absolut nicht. Es geht doch nicht um eine politische, sondern um eine journalistische Haltung. Bei meiner Snowden-Recherche kam ich beispielsweise zum Schluss, dass die Schweizer Politik genauer hätte hinschauen müssen, was die NSA auf Schweizer Boden gemacht hat. Ich habe lange recherchiert und mit vielen Akteuren gesprochen und mir daraus meine Meinung gebildet. Dies dürfen die Zuschauer durchaus spüren. Journalismus, der ganz ohne Haltung auskommt, ist nicht der Journalismus, den ich betreiben möchte.
Sie sind in einer CVP-Familie aufgewachsen. Wie hat Sie das beeinflusst?
Ich habe zu Hause Politik live erlebt, das hat mich geprägt. Durch das Engagement meines Vaters, der unter anderem Grossrat im Kanton Aargau war, sah ich, dass Politik Knochenarbeit ist. Er hat viel gearbeitet, war oft an Sitzungen. Er hat immer für die Sache gearbeitet und nicht für sein Ego.
Wann begannen Sie sich selbst für Politik zu interessieren?
Es war am Fasnachtsumzug in Villmergen kurz nach den Bundesratswahlen 1983. Die SP hatte Lilian Uchtenhagen als Nachfolgerin für Willy Ritschard vorgeschlagen. Gewählt wurde Otto Stich, der gar nicht für die Wahl nominiert war. Verkleidet als die sieben Bundesräte, zogen wir Kinder durch die Fasnacht. Meine Freundin spielte die weinende Lilian Uchtenhagen. Da fragt sich sogar eine Neunjährige: Was ist da passiert? Eigentlich müsste doch Uchtenhagen die erste Frau im Bundesrat sein. Auch an einen anderen Moment erinnere ich mich. Mit 17 war ich in den USA im Austauschjahr. Bis heute weiss ich, was zuvorderst im Staatskundebuch stand. Unter einem Bild der Landsgemeinde Appenzell Innerrhoden stand: «Es gibt immer noch Länder, in denen Frauen nicht wählen dürfen.» Die ganze Klasse hat sich zu mir umgedreht. Mein Banknachbar fragte mich: Aber Strom und fliessendes Wasser habt ihr in der Schweiz?
25 Jahre später könnte in den USA zum ersten Mal eine Frau Präsidentin werden.
Ich denke, die Zeit ist reif für eine Frau an der Spitze der USA. Es hat mich sehr erstaunt, dass hierzulande vor vier Jahren diskutiert wurde, ob eine Frauenmehrheit im Bundesrat gut oder schlecht sei. Dazu wurden sogar Umfragen gemacht. Im 21. Jahrhundert. Die Qualifikation muss doch im Zentrum stehen. Wenn jemand fähig ist, ein Amt zu führen, spielt es keine Rolle, ob Mann oder Frau. Dass wir diese Diskussion noch führen müssen ...
Die ARD-Moderatorin Anja Reschke rief im Fernsehen dazu auf, Hetze gegen Flüchtlinge öffentlich zu verurteilen. Könnten Sie sich vorstellen, sich ebenfalls so zu positionieren?
Ich glaube, das ist eine Frage der Medienhaus-Politik. Bei SRF kennen wir die Funktion des Kommentars nicht mehr. Darum muss ich mir das gar nicht überlegen. Aber ich äussere mich trotzdem zu diesem Thema. Indem ich etwa ausserhalb von SRF entsprechende Artikel verfasse. Einfach so, dass es journalistisch Sinn macht.
Und Reschkes Kommentar machte keinen Sinn?
Doch. Sie löste eine ganz wichtige Debatte aus. Es darf nicht sein, dass Kommentare ins Netz gestellt werden, die verfassungswidrig und ohne Anstand sind. Gerade bei diesem Thema beschäftigt mich die Härte der Auseinandersetzung. Rassistische Äusserungen etwa sind nicht zu tolerieren.
Sie haben Journalistik studiert. Wo steht die Schweizer Medienlandschaft heute?
Ich masse mir kein pauschales Urteil an. Aber: Mehr denn je braucht es vertiefenden Journalismus und Journalisten, die recherchieren. Das klingt natürlich nach einem Werbespot für die «Rundschau» (lacht). Es kann nicht sein, dass nur noch Copy-Paste-Journalismus betrieben wird. Ein Journalismus, der hinterfragt, ist für die Gesellschaft enorm wichtig, als Kontrast zur Informationsflut und zur News-Jagd rund um den Globus.
Wie sieht denn Ihre Lösung für den zukünftigen Journalismus aus?
Ich habe sie auch nicht. Momentan sprechen alle über «constructive journalism». Das ist ein grosses Wort. Aber die Frage dahinter ist interessant: Wie kommen wir aus der Dynamik raus, dass mehrheitlich konfrontative Berichte publiziert werden, dass vornehmlich Bad News News sind? Dieser Diskussion müssen wir uns selbstkritisch stellen. Nehmen wir den aktuellen Wahlkampf in der Schweiz als Beispiel. Man beobachtet immer mehr «negative campaigning» wie in den USA. Klar: Jeder Wahlkampf ist hart. Aber es gibt eine Grenze des guten Geschmacks. Das ist vor allem ein Problem für die Medien: Springen wir auf solche hässlichen Kampagnen auf – und zeigen damit, dass sie funktionieren? Oder ignorieren wir sie?
Sie haben Ihre Liz-Arbeit über Basler Missionsschwestern an der afrikanischen Goldküste geschrieben. Was interessierte Sie an diesem Thema?
Die Schwestern waren die ersten, die unverheiratet, ohne Männer und abenteuerlustig übers Meer segelten und in der Fremde – im heutigen Ghana – Schulunterricht gegeben haben. Das waren emanzipierte Frauen in einer Zeit, in der sie noch mit offenem Fenster unterrichten mussten, damit man sie kontrollieren konnte ... sie waren Pionierinnen.
Sind die Missionsschwestern von damals Vorbilder?
Ja, was den Mut, die Abenteuerlust und die Bereitschaft, sich nicht in gesellschaftlich vorgeschriebene Schubladen stecken zu lassen, angeht. Mit der Missionsgeschichte selbst habe ich mich aber kritisch auseinandergesetzt.
Ihr Mann, Franz Fischlin, ist «Tagesschau»-Moderator beim SRF. Kürzlich wurde er von den Ferien abgezogen, weil er für eine erkrankte Kollegin einspringen musste. Leidet Ihr Familienleben unter Ihrem und dem Job Ihres Mannes?
Nein. Wir haben es nie anders gekannt und wussten, worauf wir uns einlassen. Ja, es braucht eine hohe Flexibilität. Als 9-to-5-Job lässt sich Journalismus nun mal nicht betreiben, auch wenn das nicht immer leicht ist. Wenn ich für eine Reportage in den Iran fliege, dann weiss meine Familie, dass ich während dieser Zeit ausgelastet bin. Wenn umgekehrt mein Mann einspringen muss, dann müssen wir uns halt entsprechend umorganisieren.
Was sagen die Kinder dazu?
Sie sind es gewohnt. Als letzte Woche die Flüchtlings-Sondersendung anstand, hätte ich eigentlich frei gehabt und wäre daheim gewesen. Also erkläre ich den Kindern, weshalb ich arbeiten gehe und um was es geht. Wenn ich im Ausland bin, schauen wir uns vorher das Land auf der Karte an und diskutieren, was ich dort mache. Meine Kinder sollen Verständnis für unseren Beruf bekommen. Aber keine Sorge, wir kommen als Familie schon nicht zu kurz.
Ihre Kinder sind eine andere Generation . Werden sie überhaupt noch TV schauen? Wird «Rundschau» Teil ihres Medienkonsums sein?
Ich werde natürlich versuchen, sie davon zu überzeugen, aber ob ich erfolgreich bin, weiss ich nicht (lacht). Wie der Medienkonsum in Zukunft aussieht, das ist die grosse Frage. Sollte man zukünftig neue Messgrössen einführen? Der Digital-Chef des «Guardian» spricht von der «what now»-Messung. Sie soll zeigen, was Journalismus bewegt und ob er die Leser und Zuschauer dazu motiviert, etwas zu unternehmen. Heute weiss niemand, was von dem bleibt, was wir machen.
Worin sehen Sie den Sinn Ihrer Arbeit?
Wenn ich auf Reportage bin, dann gehe ich in fremde Leben hinein und wieder hinaus und habe am Ende einen möglichst guten Beitrag. Aber reicht das? Ich versuche, mit den Leuten in Kontakt zu bleiben, ihnen Unterstützung zu bieten, wenn es angesagt ist. Ich sehe den Sinn meiner Arbeit letztendlich im Aufzeigen von Zusammenhängen.
Verbessern Sie die Welt mit dem, was Sie tun?
Das wäre eine Anmassung. Ich hoffe, dass ich mit meinem kritischen Hinterfragen die Leute dazu bringen kann, genau hinzuschauen, sie für ein Thema sensibilisiere. Ob das gelingt, wüsste auch ich gern. Ich hinterfrage meine Arbeit darum stets.
Sie sehen den Journalismus als Passion und nicht als Profession ...
Ja, absolut. Das hat Gutes und Schlechtes ...
Bleibt Ihnen da noch Zeit für ein Leben neben dem Beruf?
Ja, natürlich. Aber über Privates spreche ich eigentlich ungern. Und ich glaube, ich definiere das anders. Der Beruf ist Teil des Lebens. Wenn neben der Familie etwas Zeit bleibt, mache ich Sport. Die besten Gedanken kommen mir immer, wenn ich unterwegs bin.
Wie schauen Ihre Kinder auf den Schweizer Wahlkampf?
Sie sehen natürlich die überall hängenden Plakate. Das finden sie spannend. Die Wahlen sind für sie allerdings noch eher wie ein Champions-League-Match: Wer gewinnt? Welches ist die beste Partei? Wir versuchen nun, ihnen die Schweizer Demokratie ein wenig differenzierter zu erklären ...
Sie wurden auch schon mit ARD-Polit-Talkerin Anne Will verglichen. Würde Sie ein Polit-Talk über 90 Minuten Dauer reizen?
Für mich kann es nie genug Polit-Talks geben (lacht). Bei der «Rundschau» kann ich Reportagen und Recherchen machen, bin bei Beitragsabnahmen dabei und habe Live-Interviews. Und jetzt kommt noch die anspruchsvolle Wahlsendung vom 18. Oktober hinzu. Das ist spannend genug.
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