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Als Leitende Ärztin auf der Notfallstation des Bürgerspitals Solothurn ist sich Eva Maria Genewein gewöhnt, innert Sekunden lebenswichtige Entscheide zu fällen. Schwer alkoholisierte Patienten machen ihr schon mehr zu schaffen.
Am Empfang steht ein bleicher Mann, der sich auf seine Frau stützt. Vor der Türe fahren Ambulanzfahrzeuge vor. Über die Festtage ist Hochbetrieb in den Notfallstationen der Solothurner Spitäler. Eva Maria Genewein lässt sich von der Hektik nicht beeindrucken. Die Leitende Ärztin der Notfallstation am Solothurner Bürgerspital muss auch in stürmischen Zeiten einen kühlen Kopf bewahren.
Eva Maria Genewein, spüren Sie Weihnachten auf der Notfallstation am Bürgerspital?
Oh ja. An Weihnachten – und auch an Neujahr – gibt es jeweils massenhaft Patienten. Normalerweise versorgen wir um die 90 Patienten pro Tag. An den Festtagen sind es bis zu 160. Am 26. Dezember und am 2. Januar haben wir die höchsten Patientenzahlen im Jahr.
Warum gerade an diesen Tagen?
Die Hausärzte haben ihre Praxen geschlossen und die Patienten müssen irgendwo versorgt werden. Die Leute kommen aber nicht am 24. Dezember. Sie «stüdelen» das bis am 26. hinaus. Jeder bevorzugt es schliesslich, zu feiern und nicht auf den Notfall zu gehen.
Es ist jetzt morgen und es wirkt ruhig. Spüren Sie die Tageszeiten?
Ja. Bis um 9 oder 10 Uhr ist es relativ ruhig. Danach steigt die Kurve steil an und bleibt bis abends um 11 oder 12 Uhr hoch. Danach fällt sie ab und erreicht morgens um 4 Uhr ihr Minimum.
Ich war nie hier. Was passiert, wenn ich auf die Notfallstation komme?
Das Wichtigste ist, möglichst früh zu erkennen, wie schwer krank jemand ist. Wenn ein Patient zur Türe hereinkommt, gelangt er an den Anmeldeschalter. Fast zeitgleich kommt er in den Triageraum. Dort beurteilen ihn ausgebildete Pflegefachfrauen mit dem Nachdiplomstudium Notfallpflege nach einem klar definierten System: Braucht ein Patient sofort einen Arzt, braucht er diesen innerhalb von zehn Minuten oder kann der Patient etwas warten? Je nachdem folgt erst danach die Registrierung mit allen nötigen Daten.
Sind Sie als Ärztin eigentlich froh, wenn «nur» ein Beinbruch kommt und nicht ein Herzinfarkt?
Das spielt für mich keine Rolle. Ich bin froh, wenn ich weiss, wer was hat, damit ich meine Prioritäten festlegen kann. Ich möchte vielleicht bei einem Patienten gerade mehr Zeit verbringen, weil ich mir ein besseres Bild von seinem Leiden machen muss, um rasch abgrenzen zu können, was er hat. Bei einem anderen Patienten möchte ich dagegen vielleicht noch zuwarten und kann erst die Diagnose stellen, wenn alle Daten wie etwa Laborwerte oder Röntgenbilder vorhanden sind.
Patienten kommen an Spitzentagen wie dem 26. Dezember oder dem 2. Januar in die Notfallaufnahme beim Bürgerspital Solothurn. An gewöhnlichen Tagen sind es 90. Ein Teil von ihnen kann ohne höchste Dringlichkeit in der Gruppenpraxis im Notfall behandelt werden. Die Zahl derjenigen, die ohne seriöse Beschwerden kämen, sogenannte Bagatellfälle, sei aber gering, sagt Eva Maria Genewein.
Sie können auch nicht überall gleichzeitig sein.
Ich arbeite hier nicht alleine. Oberärzte, Assistenzärzte, Pflegende kümmern sich rund um die Uhr um die Notfallpatienten. Trotzdem müssen einige warten. Wir könnten die Notfallstation nie so ausstatten, dass jeder den Arzt sofort sehen kann. Die Oberärzte als Supervisoren mit ihrer langjährigen Erfahrung müssen kurz alle Patienten sehen und Schwerkranke erkennen. Wir hatten gerade kürzlich so einen Fall: Eine Patientin kam sehr blass mit Thorax-Schmerzen in den Schockraum. Das EKG-zeigte keinen Herzinfarkt, der Blutdruck sank. Einzig aufgrund der kurzen Geschichte, die die Patientin erzählte, und aufgrund der klinischen Untersuchung fand ich sehr schnell heraus, dass sie eine lebensgefährliche Aufspaltung der Aorta hat. Wir konnten sie sofort ins Inselspital bringen. Sie hat überlebt. Diese Patienten können leicht sterben. Da muss ich mir Zeit nehmen. Dann müssen andere, die warten können, warten.
Sie klingen sehr besonnen. Kommt bei Ihnen nie Hektik auf?
Doch, manchmal schon. Aber im Vordergrund steht die Frage: Wer braucht jetzt zuerst Hilfe? Hektik bringt uns nichts. Es macht keinen Sinn, wenn der eine dem anderen den Weg versperrt.
Wie gelingt es Ihnen, in hektischen Zeiten die Übersicht zu behalten?
Das ist immer wieder eine hohe Kunst! Es braucht ein gutes Gedächtnis, hohe Konzentration und Ruhe. Ruhe bringt zum Beispiel der Teamleader im Schockraum. In diesem Intensivraum stehen oft sehr viele Ärzte und Pflegende um einen Patienten. Und wir reden durcheinander. Das ist unangenehm. Die Pflegende weiss dann oft nicht, was sie machen muss. Deshalb haben wir den Teamleader. Er trägt ein Gilet und er bestimmt, was wann gemacht wird. Die Pflegende hört nur auf das, was er sagt. Das bringt Struktur.
Alles eine Frage der Organisation?
Ja, die Hektik zu bewältigen ist auch eine organisatorische Frage. Denn schneller arbeiten können wir nicht. Es braucht einfach seine Zeit, um eine Infusion zu legen. Wir können nur gute Voraussetzungen dafür schaffen. Über die Festtage hatten wir in diesem Jahr zudem zum ersten mal einen zweiten Oberarzt auf der Notfallstation. Dann kann man sehr gut die Arbeit aufteilen.
Sie müssen innert Kürze Entscheidungen mit grossen Folgen treffen.
Dazu braucht es Übung, viel Wissen und Erfahrung. Entscheidungsfreudig zu sein gehört zur Persönlichkeit, die man auf einer Notfallstation mitbringen muss.
Wie gehen Sie mit der grossen Verantwortung um?
Sie kann belastend sein. Man braucht ab und an einen Tag, an dem man herunterfahren kann. Ganz gut ist es, wenn man nach einem schweren Einsatz nochmals zusammensteht und sagen kann, was gut und was weniger gut lief. Wir versuchen zwar, dies zu machen, kommen aber zu selten dazu, weil die Leute oft schon wieder andernorts benötigt werden.
Für den einzelnen Patienten geht es um sehr viel, wenn er hierhin kommt. Sie aber haben gleichzeitig mehrere Patienten, für die es um viel geht, und müssen Prioritäten setzen. Wie macht man dies den Patienten begreifbar?
Die Kommunikation ist extrem wichtig. Ich bin immer wieder überrascht, wie verständnisvoll die Patienten sind. Kürzlich hatte ich eine Patientin mit einem schrecklichen Drehschwindel. Ich hatte gerade die Behandlung begonnen, als ich sofort weg musste. Danach musste diese Patientin eine Stunde warten. Sie hat dies verstanden.
Werden auch Angehörige nervös, wenn sie warten müssen?
Seit zwei Jahren müssen die Angehörigen nicht mehr draussen warten. Sie dürfen auch bei den Behandlungen im Schockraum dabei sein, wenn sie möchten. Früher hat man Angehörige von den dramatischen Situationen ausgeschlossen, weil man dachte, dass sie traumatisiert werden und das Erlebte nicht verarbeiten können oder allenfalls die Arbeit der Ärzte behindern könnten. Man hat hier Probleme gesehen, die sich nicht bewahrheitet haben. Dabei zu sein kann den Angehörigen bei der Verarbeitung eines dramatischen Erlebnisses helfen.
Gehen viele Angehörige mit?
Die meisten Angehörigen möchten dabei sein. Die Person von der Anmeldung begleitet sie dann zum Schockraum und erklärt, dass dies ein technischer, kühler Raum ist, in dem viele Personen arbeiten. Wenn die Angehörigen hineinkommen – das ist nicht immer sofort möglich – werden sie vom Dienstoberarzt begrüsst. Wir erklären, wer was macht und wie die Situation ist. Dann können die Angehörigen sitzen bleiben, wenn es ihnen nicht zu viel wird. Wir versuchen, uns um die Angehörigen zu kümmern.
Als wir vorhin im Gang standen, haben Sie gesagt: Je weniger schlimm etwas ist, umso schneller möchten die Leute raus.
Das ist so. Wer schwerer krank ist, zeigt mehr Geduld. Wir haben aber eben auch die ungeduldigen Patienten; ausgeprägt ist dies nach Drogen- oder Alkoholkonsum. Alkoholisierte Patienten können sehr aggressiv werden und schlagen uns teilweise das Mobiliar klein. Deshalb haben wir Sicherheitsmassnahmen geschaffen.
Personen pro Tag werden im Durchschnitt nach Verkehrskontrollen oder Unfällen von der Polizei zum Drogen- oder Alkoholtest in die Notaufnahme des Bürgerspitals gebracht. «Wir müssen dann auch schauen, ob jemand vielleicht zuerst einen Bewusstseinsverlust hatte und es deswegen und nicht aufgrund des Alkohols zum Unfall kam», sagt Eva Maria Genewein. Meist, aber nicht immer, funktioniere die Blutentnahme problemlos. «Wir handeln im Auftrag des Staates, wir sind verpflichtet, dies zu machen», so Genewein.
Sie haben einen Securitas-Dienst.
Der ist jeden Tag im Haus, am Wochenende gar bis morgens um 4 Uhr. Es hilft schon, dass jemand in Uniform da ist; aber längst nicht immer. Gelegentlich müssen wir die Polizei holen, die den Patienten festhalten muss, bis wir ein beruhigendes Medikament gespritzt haben. Denn wir als Ärzte dürfen niemanden festhalten. Aber die Polizei darf jemanden fixieren oder jemanden, der uns davonläuft, zurückholen, wenn sein Leben gefährdet ist. Das Spritzen des Beruhigungsmittels ist ein Zwangseingriff, den wir dem alkoholisierten Patienten antun müssen, damit wir ihn auf die Intensivstation verlegen können. Dort wird er in eine künstliche Narkose gelegt, bis am nächsten Tag der Alkohol abgebaut ist. Dann ist er wieder wach und weiss von nichts mehr.
Wie oft kommt dies vor?
Rund einmal wöchentlich wird jemand sehr aggressiv. Wir haben deshalb auch Telefone mit einem Sicherheitsknopf, auf den man drücken und Hilfe anfordern kann. Es ist oft schwierig nachzuvollziehen, was diese Menschen tatsächlich erleben und warum sie so aggressiv werden. Trotzdem bin ich immer wieder überrascht, wie gross unser Einfluss ist. Wir können mit einem grossen Teil der Leute reden und sie beruhigen, wenn wir ihnen Sicherheit vermitteln.
Kommt es auch zu Beschimpfungen?
Ja. Beschimpfungen kommen vor, insbesondere bei Drogenpatienten. Auch bei sogenannt einfachen Drogen wie Cannabis, eine unterschätzte Gefahr. Das macht die Leute psychotisch. Beschimpfungen sind sehr unangenehm für unser Personal, das ja eigentlich nur helfen will. Man darf sie keinesfalls persönlich nehmen. Das Personal meldet uns solche Fälle. Diese Patienten erhalten später einen Brief, in dem steht, dass wir dies nicht tolerieren.
Und Anzeigen?
Die gibt es, vor allem bei Sachbeschädigungen oder Gewalt gegen Personen.
Leute, die völlig betrunken sind, können nicht mehr selbst entscheiden. Was machen Sie da?
Wir müssen an ihrer Stelle handeln. Das kommt auch bei Kranken vor, die nicht mehr urteilsfähig sind. Wir hatten an Weihnachten einen sehr betagten und krebskranken Patienten, der einen schweren Schlaganfall erlitten hatte. Er konnte nicht mehr sprechen. Noch am 20. Dezember hatte er aber eine Patientenverfügung unterschrieben, in der er festlegte, dass wir alles machen müssen. Daran waren wir gebunden. Aber als wir ihm einen Zugang legen wollten, wehrte er sich mit Händen und Füssen. Er hat gebissen. Aber wir waren verpflichtet, einen Weg zu finden. Das ist uns geglückt. Aber dazu brauchte es fünf Personen, darunter drei Ärzte, die 45 Minuten mit diesem einen Patienten beschäftigt waren.
Gibt es auch kuriose Fälle auf einer Notfallstation?
Ja. Zum Beispiel den Zeckenstich, der nur ein Muttermal ist. Oder kürzlich kam nachts um Zwei eine Patientin, die seit Lebensbeginn Schwindel hatte. Obwohl sie dieses Leiden schon immer hatte, wollte sie es einfach in dieser Nacht abgeklärt haben. Dafür braucht es aber eingehendere Abklärungen beim Hausarzt.
Wenn man permanent gefordert ist: Wie schaltet man ab?
Mit einem guten Hobby. Einige machen Sport. Mein Hobby ist die Musik.
Kurze Wege: Das ist für eine Notfallstation entscheidend. «Das Team ist nahe zusammen. Wir haben kurze Wege», sagt Eva Maria Genewein. Im Neubau des Bürgerspitals, der derzeit realisiert wird, soll dies nicht anders sein. «Ich habe die Notfallstation im Neubau nochmals umgestaltet, weil die Wege viel zu lang waren», sagt Genewein. «Durch die Umgestaltung mit einer Pflegeinsel in der Mitte konnten wir einen Drittel des Weges einsparen. Das lohnt sich.»
Auch beim Team spielt die räumliche Nähe eine Rolle: «Früher sassen Ärzte und Pflegende nicht einmal auf derselben Abteilung», erzählt Genewein. Das Teamleben sei für eine Notfallstation jedoch entscheidend. So wurden die Computerarbeitsplätze von Ärzten und Pflegenden zusammengelegt. «Man kann so Informationen austauschen und zieht am gleichen Strick.» Einen grossen Vorteil sieht Genewein auch darin, dass der Rettungsdienst am Haus alloziert ist. «Sie kennen uns sehr gut. Und wir haben einen qualitativ sehr guten Rettungsdienst mit Mitarbeitern, die es verstehen auf die Bedürfnisse des Patienten einzugehen.» (lfh)