Versuchen Sie es: Stellen Sie sich vor, Sie sind zum ersten Mal in Solothurn. Als Touristin oder Zimmermann auf Wanderschaft oder als Gestrandeter auf dem Jakobsweg – suchen Sie sich etwas aus. Stellen Sie sich vor, Sie kommen vom Bahnhof her und stehen nun auf dem Kreuzackerplatz. Blicken über die tiefblaue oder moosgrüne – je nach Wind- und Wetterlage – Aare hinweg auf die St. Ursen-Kathedrale, erblicken im Hintergrund die majestätisch emporragende erste Jurakette und den stahlblauen Himmel, durchzogen nicht etwa mit Kondensstreifen, sondern vereinzelt gespickt mit kleinen Wattebäuschchen. Himmlisch schön.
Und nun stellen Sie sich vor, Sie kommen mit ihrem Gspusi in Solothurn an, sind frisch verliebt ineinander. Sie befinden sich gerade in diesem Euphorie-Zustand? Dann Gratulation an dieser Stelle. Jedenfalls: Kombinieren Sie nun gedanklich Ihre noch zarte Liebe mit dem bezaubernden Eindruck, den Sie als Tourist, Zimmermann oder Jakobswegwanderer gerade erleben. Muss ziemlich «wow» sein, oder?
Lange Einführung, wichtige Lektion: Weil uns alles schon lange Routine geworden ist – diese schöne Stadt, die erfrischende Aare, die Liebe – lohnt sich ein Wechsel der Perspektive auf das, was uns umgibt. Der Frühsommer eignet sich dafür besonders gut – und ein Frühsommer nach Corona noch viel mehr. Alles kommt jetzt üppig daher – die vielen Solothurner Linden stehen gar kurz vor der Blüte und werden uns schon bald mit ihrem betörenden Duft verwöhnen – unsere winterweissen Beine haben alle schon einmal die Sonne gesehen und fleissig Gute-Laune-Vitamin-D gesammelt. Und ja, auch dass die aarenahen Lokale wieder offen haben, trägt zum guten Frühsommergefühl bei. Doch obschon wir unsere eingespielten Durch-die-Stadt-Spaziergänge, Märet-Besuche und Apéro/Kafi-Stopps zwar allesamt noch ganz nett finden, zu überraschen vermögen sie uns kaum noch.
Gewohnten Auges glauben wir, jederzeit zu wissen, was in der nächsten Gasse auf uns wartet. Wissbegierig wie eine Touristin beim Besuch an einem fremden Ort, aufmerksam wie der Entdecker einer verschollen geglaubten Stadt, neugierig wie ein frisch Verliebter auf seine Freundin – auch so dürfen wir Solothurn hin und wieder erleben. Gerade oder besonders jetzt. Dann erquicken uns die pittoresken Ecken vielleicht wieder, erinnern uns an unsere letzten Italienferien. Auf dem Märet riecht’s nach Kräutern aus dem Süden. Und mit ein bisschen Verliebtheitshormonen im Blut und Sehnsucht im Kopf glauben wir vielleicht sogar, dass Solothurn tatsächlich am Meer liegt.
maria.brehmer@chmedia.ch