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Der Zürcher Tag der Arbeit stand im Zeichen der Solidarität. Am Rande kam es zu Sachbeschädigungen in der Höhe von mehreren 10 000 Franken.
«Du was meinsch, isch das d’Ruhe vorem Sturm?», fragt ein Mann in den Fünfzigern seinen Banknachbarn an der Tramhaltestelle Helvetiaplatz. Der etwa zehn Jahre jüngere Angesprochene wirft ihm einen vielsagenden Blick zu und sagt: «Muesch nur luege, das chlöpft scho na.» Es ist 14.45 Uhr, die offizielle Zürcher 1.-Mai-Kundgebung ist längst vorbei. Es regnet seit Stunden. Auf dem Kanzlei-Areal haben sich rund 100 Personen aus der linksautonomen Szene versammelt und nicken vor einer Bühne zu den Bässen einer deutschen Rap-Gruppe im Takt.
Etwa vier Stunden früher ist die Stimmung am selben Ort eine völlig andere: Über 10 000 Personen sind dem Ruf des 1.-Mai-Komitees und der Gewerkschaften gefolgt und machen sich auf zur grossen Schlusskundgebung auf dem Sechseläutenplatz. «Wir sind alle Flüchtlinge», heisst der Slogan, unter dem die Demonstranten vorbei an Stauffacher, Bahnhofstrasse, und Limmatquai zum See ziehen. Als die Spitze des Umzuges um 12 Uhr am Zielort eintrifft, erwartet Sie auf der Bühne eine Klezmer-Band. Eine wogende Menge – viele Anwesende sind mit Regenschirmen ausgerüstet – lauscht auch den Ansprachen der Festrednerinnen und Festredner im Anschluss an das Konzert.
Publikum unterbricht Rednerin
Wobei, lauschen trifft es in diesem Fall nicht ganz. Vor allem die als Gastrednerin auftretende deutschstämmige türkische Parlamentsabgeordnete der linken Partei HDP, Feleknas Uca, wird von den Anwesenden teils frenetisch gefeiert. Sie kritisiert die Flüchtlingspolitik der EU und der Türkei. Die Türkei sei kein sicheres Rückführungsland für Flüchtlinge, sagt Uca und verweist auf die Kurdenpolitik ihres Heimatlandes. Sie fordert, dass «die Fluchtursachen bekämpft werden müssen, nicht die Flüchtlinge». Immer wieder wird die Jesidin von Sprechchören unterbrochen. Als sie etwa darauf hinweist, dass die HDP-Abgeordneten in der Türkei von Mitgliedern von Recep Tayyip Erdoğans Regierungspartei AKP tätlich angegriffen worden seien, schallt ein lautes «Erdogan, Terrorist! Erdogan Terrorist!» über den Platz.
Die gegenwärtige Flüchtlingspolitik Europas kritisieren auch ihre Vorredner Markus Bischoff, AL-Kantonsrat und Präsident des Zürcher Gewerkschaftsbunds, und die Winterthurer SP-Nationalrätin Mattea Meyer. Bischoff betont, es dürfe nicht zu einer humanitären Krise kommen, nur weil reiche Länder wie die Schweiz um ihren Wohlstand fürchten. Und Meyer erklärt, dass sie sich gern als «Gutmensch» bezeichnen lasse: «Ich trage diese Beleidigung mit Stolz.» Denn Gutmensch bedeute ja nichts anderes, als dafür einzustehen, «dass die Bedürfnisse der Menschen mehr zählen als der Profit und dass die Freiheit der Menschen über jener des Geldes steht».
Ortswechsel: Kurz nach der offiziellen Kundgebung kommt im Kreis 4 Volksfeststimmung auf. Ein beachtlicher Teil der Demonstrierenden hat sich auf das Kasernen-Areal verschoben, um sich an einem der vielen Essensstände mit Speisen aus aller Herren Ländern zu verpflegen, bei einem Glas Bier zusammenzusitzen oder an einer der Veranstaltungen im Rahmen des 1.-Mai-Fests teilzunehmen. Kinder springen umher, immer wieder beginnen mitten in der Menge Menschen zu tanzen. Im Vergleich dazu, was sich zuvor wenige hundert Meter entfernt abgespielt hat, wirken diese Szenen wie aus einem anderen Film.
Vorzeichen standen auf Sturm
Dieser Tag der Arbeit beginnt unter schlechten Vorzeichen. In der Freitagnacht hatten rund 60 Personen gegen «Aufwertung, Verdrängung und Repression» protestiert und randaliert. Am frühen Sonntagmorgen wurde im Bahnhof Enge ein Schliessfach gesprengt. Auch am Demonstrationszug hatten rund 300 Linksautonome teilgenommen. Bei Polizeiwachen, Banken oder auch bei der McDonalds Filiale am Stauffacher warfen sie Farbbeutel und zündeten Rauchpetarden, den Sachschaden schätzte die Polizei auf mehrere 10 000 Franken.
Im Kreis 4 ist die Stimmung nach der Kundgebung daher angespannt. Als sich kurz nach 15 Uhr eine Gruppe von etwa 80 Linksautonome vom Kanzlei-Areal auf den Helvetiaplatz bewegt, scheint sich die Prophezeiung des Mannes an der Tramhaltestelle zu bewahrheiten. Kantons- und Stadtpolizei sind längst massiert anwesend und riegeln die umliegenden Strassen ab. Als sich eine selbst gebaute Panzer-Attrappe der Autonomen an Knallpetarden entzündet und die Gruppe für eine Transparent-Aktion gegen Sexismus in Richtung des Fastfood-Restaurants «Hooters» zieht, droht die Stimmung ganz zu kippen. Doch die Einsatzkräfte bleiben ruhig.
Die rund 140 Demonstranten sind zu diesem Zeitpunkt bereits eingekesselt. Die Beamten kreisen sie immer enger ein. Dann, um 16.30 Uhr, ist der Spuk vorbei: Die Polizei kontrolliert die Eingekesselten und spricht vereinzelt Wegweisungen aus. Die befürchtete Strassenschlacht bleibt aus, aus der Anspannung wurde nur ein Sturm im Wasserglas.