Soll sich die Schweiz gegenüber Europa öffnen? Ja, findet Schriftsteller Iso Camartin. Er reagiert auf den Brief, den ihm der EU-kritische Financier Tito Tettamanti geschrieben hat
Von Iso Camartin
Lieber Tito
Es überrascht und ehrt mich, lieber Tito, dass Du unter jenen Schweizern, welche das Manifest «Vier Gründe für Europa» unterzeichnet haben, mich als Adressaten für Deine Stellungnahme ausgewählt hast. Es stimmt: Wir sind beide unabhängig, haben – ausser den bei jedem Menschen akzeptablen eigenen Vorlieben und Orientierungen – keine Partikularinteressen von Firmen, Verbänden, Vereinen und Parteien wahrzunehmen und zu vertreten. Wir stehen beide nicht in irgendjemandes Sold. Das fördert die Debattier- und Streitlust und den Wetteifer um die besseren Argumente. Du bist für mich der meistlesende und spielballfreudigste «glückliche Kapitalist» der Schweiz. Ich weiss aber auch, dass Du ein nachdenklicher, besorgter, und – aufgrund Deiner guten Möglichkeiten – eingreifend handelnder Staatsbürger bist. Darum nehme ich hier den Fehdehandschuh auf und antworte. Du bevorzugst die Register der Ironie und der Doppelbödigkeit. Auf dieser Orgel spiele ich gerne mit.
Ein Dialog ist für mich das Aushandeln des Vernünftigen unter Gleichberechtigten. Ich gehöre nicht zu jenen Intellektuellen, die sich im Ressentiment der Vergeblichkeit einrichten und die eigenen Überlegungen von vornherein für nicht mehrheitsfähig und marginal halten. Auch ich bin Citoyen und Republikaner, der daran glaubt, dass politische Verhältnisse und gesellschaftliche Zustände verbesserbar sind und dass man dies sogar mit den Mitteln der Vernunft und den «Waffen des Geistes», das heisst mit überzeugenden Argumenten und mit leidenschaftlicher Anteilnahme erreichen kann. Darum unterzeichne ich auch Aufrufe und Manifeste, wenn ich überzeugt bin, dass sie die politische Hellhörigkeit und den gesellschaftlichen Dialog fördern.
Ich bin kein Fachmann für Wirtschaftsfragen und verstehe die Komplexität von Marktmechanismen, von Handelsverträgen, von Lohndruck und Preispolitik zwischen Handelspartnern nur unzureichend. Auch derjenige bin ich nicht, der auszurechnen und aufzulisten vermöchte, welche die Vor- und Nachteile der bilateralen Verträge oder des Freizügigkeitsabkommens der Schweiz mit der EU genau waren und noch sind. Auch kann ich nicht beurteilen, ob die Einführung des Euro, finanzpolitisch betrachtet, für Europa ein grosser Schritt nach vorn oder für die Situation der einzelnen Länder zur Belastung und Erschwernis wurde. Von der «europäischen Idee» verstehe ich immerhin so viel, dass, auch wirtschaftlich betrachtet, ein Kooperationsmodell gerade zwischen unterschiedlichen Ländern einem antagonistischen Konkurrenz- und Abschottungsmodell vorzuziehen ist. Es sind jedenfalls die Gründerväter Europas davon ausgegangen, dass durch die Bildung der EU die wirtschaftlich starken ebenso wie die schwächeren Länder Vorteile haben.
Meine Wahrnehmungssensibilität liegt anderswo. Mich interessieren nicht allein Profitrechnungen, wenn es um das friedliche Zusammenleben der Staaten geht. Es gibt auch politische, gesellschaftliche und ethische Aspekte, die für mich relevant sind. Darum ist mein Haupteinwand gegen die Argumentation und Beweisführung Deines Briefes, dass diese zu merkantilistisch geldorientiert, gesellschaftspolitisch zu fatalistisch und letztlich heillos defensiv helvetozentrisch sind. Im Einzelnen: Mir steht das noch verfügbare Haupthaar zu Berge, wenn ich lese, dass nicht die europäische Idee, sondern eine reine Kostenfrage seit 70 Jahren den Frieden in Europa sichere. Dass Europa den Balkankrieg nicht zu verhindern vermochte, ist eine politische Blamage für Europa, darin hast Du leider recht. Dass der Friede jedoch dadurch gesichert sei, dass Europa sich wirtschaftlich keine Kriege mehr leisten könne, ist eine schwere Verkennung der Tatsache, dass die europäischen Länder nach nationalem und nach Völkerrecht Rechtsstaaten sind mit einem inzwischen stabilen Bewusstsein darüber, dass Eroberungs- und Expansionskriege grundsätzlich ein himmelschreiendes Unrecht sind und bleiben. Was politisch und gesellschaftlich, rechtlich und ethisch zu verteidigen ist, hat niemals seine Rechtfertigung und Begründung darin, ob man es sich leisten kann oder nicht. Europa hat in der jüngsten Geschichte – mit Ausnahme des Balkan- und jetzt vielleicht des Ukraine-Krieges – friedliche Zeiten erlebt, weil der 2. Weltkrieg die definitive Bestätigung dafür war, zu welchem Unheil und Unglück Eroberungskriege führen. Solche Kriege hinterlassen nicht wieder gutzumachendes Unrecht an unschuldigen Opfern. Gegen Kriege besser gefeit ist Europa nicht, weil sie zu teuer wären – dafür profitieren leider immer noch zu viele von einem Krieg –, sondern weil das Bewusstsein stark genug geworden ist, dass Kriege ein Verbrechen sind und das absolut untaugliche Mittel zur Verbesserung der Lebensbedingungen.
Eine nächste Überlegung. Zugegeben, wir haben ein Problem, das man lösen muss. Fast alle Nationen – sogar die Schweiz – leben gegenwärtig über ihre Verhältnisse, vermehren ihre Schulden und wirtschaften auf Pump. Ich höre dazu die Stimme von Ökonomen, die dies als unvermeidbar und hinnehmbar bezeichnen, andere, die es für eine Katastrophe halten, bei der irgendwann das böse Erwachen sicher sei wie das Amen in der Kirche. Dieses Problem scheint so amerikanisch wie japanisch, so griechisch wie französisch zu sein. Ob ein globaler Stopp der Neuverschuldung hier das richtige Rezept wäre, vermag ich nicht zu beurteilen. Nur scheint es mir zu kurz gegriffen, für diese Entwicklung eine selbstsüchtige, nur auf kommende Wahlen fixierte «Classe politique» verantwortlich zu machen. Oder eine expandierende Administration, die nur sinnlos schikanierende Gesetze und Verordnungen produziert. Ich bestreite nicht, dass es auch unnötige und schädliche staatliche Interventionen und Regulierungen für private Lebensbereiche gibt und dass zentrale Administrationen bezüglich Steuerung und Entscheidungsmacht an Einfluss gewonnen haben. Du weisst aber auch, dass die fachliche Kompetenz der Verwaltungen in Bern wie in Brüssel stark gewachsen ist, dass dies angesichts der Komplexität der Verhältnisse und der wachsenden Regelungsdichte notwendig war und es an der Politik liegt, durch Kontrolle hier die Auswüchse zu verhindern. Mir ist Dein Blick auf Politik und Verwaltung zu dämonisch. In Deinen Augen lauern überall Eigeninteressen und Korruption. Ich neige zur freundlicheren Annahme, dass es zwar gewiss Missbrauch gibt, den es zu verhindern gilt, dass in Europa aber unter Politikern und Staatsdienern auch politische Tugenden wie Korrektheit, Zivilcourage und Verantwortungsbewusstsein verbreitet sind. In der Aufklärung von Missständen spielen für mich die Medien eine entscheidende Rolle, die sie – wie ich finde – auch immer selbstbewusster wahrnehmen.
Auch das Problem gerechter Steuern und des automatischen Informationsaustauschs im Finanzwesen sehe ich ziemlich anders als Du. Schon in Athen, in der ersten demokratischen Republik unserer Zivilisation, wird das Problem der Balance zwischen privaten und öffentlichen Interessen akut. Zum damaligen Privatbereich, die sogenannte «Oikia», gehörten nicht nur die Personen, sondern auch das «Vermögen» der Familie, sogar deren religiöse Riten und Praktiken. Bald entstand die Frage, wie viel davon unsichtbar bleiben dürfe, welcher Anteil davon aber für die Polis «einsehbar – phanera» sein müsse. Der Verpflichtungscharakter von privatem Eigentum bezüglich der Polis war noch geradezu selbstverständlich.
Ich bin kein ethischer Rigorist, lieber Tito, doch das Argument, die korrekte Einhaltung der Steuerpflichten helfe in keiner Weise, die Staatsschulden zu tilgen, ist geradezu skandalös. Man muss auch Steuerbetrug und Praktiken dubioser Pauschalbesteuerung unter dem Aspekt von Rechtsgleichheit und Fairness ansehen. Nicht was die Sache bringt, ist entscheidend, sondern ob der Einzelne seinen Verpflichtungen als Staatsbürger nachkommt, steht im Zentrum. In einer direkten Demokratie kann der Bürger sogar darüber mitentscheiden, welcher Anteil an seinem Besitz dem Staat gehören soll. Ich sage nicht, dass es keine Staaten gibt, in welchen die Steuerlast exzessiv und für die Wirtschaft hemmend ist. Aber auch hier wäre zu fragen: Was peilen wir eigentlich an? Eine ewig wachsende Konsumgesellschaft? Oder aber eine auf Nachhaltigkeit bedachte neue «Verzichtsgesellschaft»? Solche Fragen sind nicht unwichtig, um über Fairness und zumutbare Lasten in Staat und Gesellschaft befinden zu können.
Damit bin ich bei meinem Haupteinwand gegen Deine Sicht der Schweiz: Wollen wir bei uns eine defensive Angstgesellschaft heranwachsen lassen, die sich einigelt und einmauert? Oder suchen wir eine Zuversichtsgesellschaft zu werden, die für alle Beteiligten zumutbare Lösungen sucht und erarbeitet? Können wir immer die Profitierenden und die Verschonten sein in einer Welt, die auch uns braucht? Ich höre schon den Spott: Wer in der Welt braucht denn die Schweiz? Wenn unser System so viele Vorzüge generiert, haben wir den anderen doch etwas zu bieten! «Die beste aller Welten» – das war der Traum der Aufklärer und die Erwartung aller Optimisten.
Patriotisch bekennende Schweizer behaupten manchmal, bereits in dieser besten aller Welten zu leben. Man soll kein positives Gefühl vermiesen. Wer für sein Schicksal dankbar ist, darf sich glücklich nennen. Dennoch: Nur wenig müssen wir den Blick heben, um zu entdecken, dass das Dasein noch längst nicht für alle gut genug ist, nicht einmal bei uns! Irgendwie müsste dies uns doch beunruhigen. Aber auch anspornen und kühn werden lassen, die besseren Lösungen zu finden. Nicht nur blind den Besitzstand zu verteidigen.
Da liegt für mich – in Deiner Sicht Europas und der Schweiz – der Hund begraben. Deine Haltung ist mir viel zu fatalistisch. Es stimmt: Viele machen im Augenblick Druck auf die Schweiz, nicht nur die EU, auch die Amerikaner. In den Bereichen faire Steuern, Transparenz der Geldflüsse und Personenfreizügigkeit ist das Ei des Kolumbus noch nicht gefunden.
Es stimmt überhaupt nicht, dass die Unterzeichner des Manifests für gute Beziehungen zu Europa mit dem Schnellzug in die EU wollen. Aus einem guten Grund: Eine zentralistisch gedachte und geführte EU ist noch lange nicht der Weisheit letzter Schluss, auch wenn sie der erfolgreiche Start gewesen sein mag. In vielen europäischen Ländern herrscht ein Bedürfnis nach Klärung des Verhältnisses von nationaler Autonomie und EU-Zugehörigkeit. Was wollen denn die Briten anderes als eine EU-intern längst fällige Klärung und Bereinigung der Kompetenzen? Es gibt eine föderale Vision der EU, die noch in den Kinderschuhen steckt. Zentralismus ist ja eher eine totalitäre als eine demokratische Strategie. Ich traue es geschickten, umsichtigen und klugen Diplomaten und Politikern aus der Schweiz zu, im Gespräch mit ihren EU-Vertretern, aber auch mit den Amerikanern, für die dornigen und inkompatibel scheinenden Vorstellungen und Fragen Übergangsregelungen, Klauseln, Nachverhandlungen, kurzum: pragmatische Lösungen zu finden, welche die Isolation verhindern und die Annäherungen fördern. Und ich bin überzeugt, dass die Bevölkerung der Schweiz letztlich alles andere will als die Marginalisierung und den Rückfall in die Bedeutungslosigkeit eines «Drittstaates» im europäischen Rahmen. Dafür allerdings gilt es gegen die Prediger und die patriotisch-populistischen Scharfmacher des Alleingangs anzutreten.
Lieber Tito, ich glaube an die «inventio humana» – die Erfindungskraft des Menschen –, ich glaube an die «curiositas humana» – die unabstellbare Neugierde unseres Geistes, nach besseren Optionen Ausschau zu halten–, aber auch an eine fest in uns Schweizern verankerte Sehnsucht nach Empathie und Solidarität. Mit dem lieben Gott habe ich einen Vertrag geschlossen. Die «providentia divina» wird unsere Bemühungen zur Verbesserung der Lebensbedingungen für alle Bewohner dieses Planeten nicht durchkreuzen. Ehrenwort!
Auf gute kommende Zeiten, Dein Iso Camartin.
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