Im Sommer 1916 erzwangen Frauen auf den städtischen Märkten günstige Preise für Kartoffeln und Gemüse.
Von Regula Pfeifer*
Im Juli vor hundert Jahren ging es auf den Märkten von Bern, Biel, Grenchen, Thun und Zürich deftig zu und her. «Samstags punkt 8 Uhr sammelten sich einige proletarische Frauen vor dem Parlamentshaus in der Absicht, die Marktpreise zu drücken», beschrieb die bürgerliche Zeitung «Der Bund» die erste Marktdemonstration in Bern.
Die linke Tageszeitung «Berner Tagwacht» gab den Bericht am 1. Juli 1916 wieder und bezeichnete die Darstellung als tendenziös, aber interessant. Die Frauen hätten einen Marktkorb und ein Netz bei sich gehabt, hiess es im «Bund». Von Zeit zu Zeit habe sich eine Gruppe von dort gelöst und sei auf den Markt gegangen. «Dann wurden Frauen, die friedlich ihrem Gemüseeinkauf nachgingen, mit einem Wortschwall und sogar bedrohlichen Redensarten bewogen, sich ihnen anzuschliessen», so die Zeitung. Die Demonstrantinnen hätten «vor einigen Marktkörben Halt gemacht und im Gemüse herumgewühlt». Dann hätten sie die Marktfrau «einem scharfen Verhör unterzogen» und gefragt, «ob sie geneigt sei, ihre Ware zu dem und dem Preis abzugeben». Es gab laute Proteste und Streit zwischen Demonstrantinnen und anderen Marktbesucherinnen, und die Polizei schritt ein. Schliesslich wurden einigen Bauersfrauen die Körbe umgeleert, weil sie nach Ansicht der Demonstrantinnen überhöhte Preise für die Kartoffeln verlangt hatten. Die Umstehenden stürzten sich auf die herumkollernden Kartoffeln und nahmen sie an sich.
Rasant steigende Preise
Die Unruhen auf den städtischen Märkten brachen mitten im Ersten Weltkrieg aus. Ausgelöst wurden sie durch rasant steigende Kartoffelpreise. Kartoffeln waren Mangelware im Juli 1916. Die Wintervorräte waren aufgebraucht. Jetzt war die Zeit, wo der Import von Frühkartoffeln anlaufen sollte. Doch der Krieg in den Nachbarländern erschwerte dies massiv, nur ein Bruchteil des Üblichen kam über die Grenze. Die Verknappung liess die Kartoffelpreise in die Höhe schnellen. Das Grundnahrungsmittel der armen Bevölkerungsschicht drohte unerschwinglich zu werden.
Das realisierten die sozialdemokratischen Arbeiterinnenvereine in den Städten rasch. Die in diesen Vereinen organisierten Frauen standen in engem Kontakt zu den Ärmsten der Gesellschaft, den Arbeiterfamilien, oder gehörten teilweise selbst zu den Ärmsten. Und als Familienfrauen waren sie zuständig für den Lebensmitteleinkauf, also für den Gang auf den Markt.
Die Sozialdemokratinnen von Bern, Biel und Zürich entschlossen sich also, vor Ort Abhilfe zu schaffen. Sie gingen in Gruppen von Stand zu Stand und versuchten die Preise der Bäuerinnen und Händler auf ein Mass zu drücken, das auch fürs kleine Portemonnaie erträglich war. Waren die umringten Verkäuferinnen mit dem vorgeschlagenen Preis für ihre Produkte einverstanden, ging der Verkauf reibungslos vonstatten. Wenn nicht, versuchten die Demonstrantinnen, den Marktstand zu übernehmen und die Ware zu selbst festgesetzten Preisen zu verkaufen. Den Erlös gaben sie der überrumpelten Verkäuferin oder dem Verkäufer anstandslos ab.
Sie machten ihrer Empörung Luft
Das Vorgehen führte oft zu Streit. So etwa in Zürich am 14. Juli. «Wir wurden des heftigsten beschimpft, man drohte uns, wir würden mit dem daneben fliessenden Fluss Bekanntschaft machen, wer die Preise nicht bezahlen könne, brauche auch nicht zu fressen und was dergleichen schöne Redensarten weiter sind. Selbstredend gaben auch wir unsere Antwort auf gut deutsch.» So beschrieben die Sozialdemokratinnen die Reaktionen auf ihre Marktdemonstrationen auf dem Zürcher Engrosmarkt in ihrer Zeitschrift «Vorkämpferin».
Manchmal wurde der Streit auch handgreiflich. «Die Frauen haben ihrer Empörung endlich Luft gemacht. Sie sagten jetzt einmal den Wucherbauern, was sie sind. Die Situation begann ernst zu werden, die Körbe Kartoffeln flogen nur so herum. Salat und Gemüse erlitten dasselbe Schicksal.» So beschrieb die linke «Berner Tagwacht» die erste Berner Marktdemonstration vom 1. Juli. Oft kam es bei solchen Auseinandersetzungen zu regelrechten Volksaufläufen.
Als Reaktion flüchteten Verkäuferinnen teilweise mit ihren Waren, versteckten diese bei Händlerinnen oder Gewerbetreibenden und behaupteten, es sei alles verkauft oder verschenkt. Nach dem Schrecken der ersten Marktdemonstration blieben viele Bäuerinnen und Händler vorerst dem Markt fern.
Arme gegen Reiche
Auch zwischen Demonstrantinnen und wohlhabenderen Marktbesucherinnen kam es in jenen Tagen zu Konflikten. Die reichen Frauen überboten teilweise die Höchstpreise, nur um an die Ware zu kommen. Dagegen schritten Demonstrantinnen ein. In Bern nahm der Konflikt ein solches Ausmass an, dass sich die Demonstrantinnen und Reichen in zwei Gruppen gegenüber standen und beschimpften.
Doch es kam auch zu Annäherungen zwischen linken und bürgerlichen Frauen, vor allem in Bern. So erschienen an der Protestversammlung der Sozialdemokratinnen am 4. Juli in Bern auch bürgerliche Frauen. Und am 15. Juli waren zahlreiche bürgerliche Frauen am Demonstrationsumzug durch die Marktgasse beteiligt. Eine FDP-Frau forderte danach vor der Versammlung ihrer Partei am 17. Juli – genau wie die Sozialdemokratinnen – den Gemeindeverkauf und den Einbezug der Frauen in die städtische Lebensmittelkommission. Sie wurde später in diese Kommission gewählt.
Ihr Vorgehen auf dem Markt verstanden die sozialdemokratischen Frauen nicht primär als Protest, sondern als berechtigte Marktkontrolle. Wo Politik und Polizei nicht für erträgliche Preise sorgten, nahmen sie eben selbst das Heft in die Hand. Dieses Selbstverständnis hat in den Unterschichten seit Jahrhunderten Tradition. Sie stellen die Regierung unter die moralische Verpflichtung, für ein anständiges Wirtschaften und eine anständige Versorgung der Bevölkerung sorgen zu müssen. Schafft eine Regierung das nicht, haben die Menschen das Recht, zur Selbsthilfe zu greifen; so besagt es dieses traditionelle Verständnis.
Die Marktdemonstrationen im Juli 1916 hatten offensichtlich Auswirkungen. Die Preise für Kartoffeln und Gemüse in den betroffenen Städten sanken massiv. Die neuen Höchstpreise, das verstärkte Einschreiten der Polizei zur Durchsetzung dieser Preise und schliesslich der Kartoffel- und Gemüseverkauf durch die Stadt selber, unterstützen diese Tendenz. Der Bundesrat führte Mitte Juli erste national gültige Höchstpreise für Kartoffeln ein, die die lokalen Höchstpreise noch unterboten.
Kein Sonderfall
Die Marktdemonstrationen gaben der Teuerungsfrage im Sommer 1916 neuen Schub. Die sozialdemokratischen Frauen brachten ihre Anliegen den städtischen – in Zürich auch den kantonalen – Behörden vor. Die Sozialdemokraten und Gewerkschaften nahmen das Teuerungsthema mit eigenen Versammlungen und politischen Vorstössen auf. Doch gelöst war das Problem noch lange nicht. Es durchzog die Zeit des ganzen Ersten Weltkriegs und kumulierte im Landesgeneralstreik vom November 1918.
Marktdemonstrationen sind übrigens kein Schweizer «Sonderfall». Solche und ähnliche Proteste zur Versorgung mit Lebensmitteln fanden um den Ersten Weltkrieg in vielen europäischen Ländern statt.
* Regula Pfeifer ist Historikerin und Journalistin. Ihre Lizenziatsarbeit schrieb sie zu «Frauen und Protest. Marktdemonstrationen in der deutschen Schweiz im Kriegsjahr 1916», Mai 1993.
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