Johanna Bartholdi erfand den Steuerpranger - ein Portrait.
Sie sind doch die Gemeindepräsidentin von Egerkingen? Super, dass Sie den Mut hatten, das zu machen. Ich gratuliere Ihnen.» – «Ja. Danke, vielen Dank.» Ein Gespräch mit Johanna Bartholdi in einem Restaurant bleibt derzeit nicht unbemerkt. Die Egerkingerin hat es geschafft, innerhalb weniger Tage zur berühmtesten Gemeindepräsidentin der Schweiz zu werden, und das, weil sie an der vergangenen Gemeindeversammlung Namen von langjährigen Steuersündern verlas. Gar deutsche Medien bezeichnen sie als «kampfesmutig wie Wilhelm Tell und grundaufrichtig wie Johanna Spyris berühmte Heidi». «Eine Bezeichnung, die mir zugegebenermassen gefällt», sagt Johanna Bartholdi. Schliesslich sei «Heidi» das einzige Buch gewesen, das ihr als Kind gefallen habe. Ihre Lesefaulheit hätte ihren Eltern, die in Frutigen im Berner Oberland eine Papeterie und Buchhandlung betrieben, gar keine Freude gemacht, erzählt sie.
«Bei mir musste immer etwas gehen», sagt sie schlicht. So schlug die junge Frau nach dem Besuch einer Handelsschule in La Neuveville und zusätzlich abgeschlossener Matur den Weg in die Gastronomie ein. Ein denkwürdiges Essen in einem Hotel in Valbella als Jugendliche machte damals so grossen Eindruck, dass sie sich sagte: «So etwas will ich auch machen.» Nach der Hotelfachschule in Glion arbeitete sie in Lausanne und lernte dort ihren Mann, ebenfalls ein Gastronom, kennen. 1982 zog das Paar nach Egerkingen und übernahm dort das neu gebaute «Motel». «Ja, die Fernsehserie wurde während unserer Arbeit dort ab 1984 gedreht», erinnert sich Bartholdi.
1990 wurde das «Motel» verkauft, und Bartholdis schauten sich nach etwas anderem um. «Es hat mir nie Probleme gemacht, etwas Neues anzupacken», sagt sie. «Ich bin halt ein Zwilling.» Seit 1995 arbeitet Johanna Bartholdi für den Schweizer Cafetierverband in Zürich. Zunächst als Geschäftsführerin, seit 2009 als Verbandspräsidentin mit einem 40-Prozent-Pensum. Bartholdi hat sich in diesen Jahren in Egerkingen nicht gross politisch betätigt, sagt sie. «Ab 1985 war ich in der Umwelt- und Planungskommission dabei. Die damalige Einführung der Sackgebühr brachte mir meinen ersten Spitznamen – Jeanne d’Arc der Ghüderhaufen – ein», schmunzelt sie. Schon immer also scheute sie sich nicht, unliebsame Themen anzupacken.
Ab 2005 war sie im Gemeinderat zuständig für «öffentliche Bauten», und als dann 2009 der langjährige Gemeindepräsident sein Amt abgab, habe sie
48 Stunden Zeit gehabt, sich zu überlegen, ob sie dieses Amt übernehmen würde. «Mein Mann meinte, wenn du willst, mach es. Ich selbst übernehme dann aber sicher keine Repräsentationsaufgaben.» Dass sie diesen Frühling noch zur Kantonsrätin gewählt wurde, habe sie eigentlich überrascht, sagt sie. «Im neu renovierten Sitzungssaal des Rathauses in Solothurn habe ich einen wunderschönen, alles überblickenden Hinterbänkler-Sitz. Das gefällt mir.» Erschreckt habe sie die viele Post, die jetzt aus dem Rathaus bei ihr ankäme. «Andererseits ist es für eine Gemeindepräsidentin schon wichtig, die Geschäfte des Kantonsrates zu kennen und mitzugestalten», sagt die FDP-Frau.
Schon bei ihrer ersten öffentlichen Rede als Egerkinger Gemeindepräsidentin, es war die 1.-August-Rede von 2009, sprach sie über das Thema Steuerausstände. Gesunde Gemeindefinanzen sind für Bartholdi in ihrem Amt das Wichtigste. «Mit der von mir initiierten Kurtaxe, die ebenfalls viel zu reden gab, nehmen wir jetzt pro Jahr 120 000 Franken ein, wobei rund 30 000 wieder an die Hotelbetriebe, beispielsweise für Werbemassnahmen, zurückfliessen.» Das freut sie.
Jedes Jahr musste Egerkingen – wie die meisten anderen Gemeinden auch – über hohe Steuerabschreibungen debattieren. «Egerkingen ist ein kleines Dorf mit rund 3000 Einwohnern. Uns fiel auf, dass es über Jahre immer die gleichen Personen waren, die Verlustscheine produzierten.» Und so schrieb die Gemeinde im Februar dieses Jahres 68 Briefe an Steuerschuldner und forderte diese auf, sich zu melden. «Über 30 meldeten sich, und ich sah auch persönliche, traurige Schicksale. Daraufhin schufen wir einen Kriterienkatalog, nach welchem wir schliesslich zwölf Schuldner mahnten, dringend mit uns Kontakt aufzunehmen.» Wohl aufgrund der Medienberichte meldete sich das solothurnische Amt für Gemeinden und machte auf den Datenschutz aufmerksam und dass mit dem Öffentlichmachen ein Offizialdelikt begangen würde. «Das erschreckte mich dann schon ein wenig.» Doch Bartholdi argumentiert: «Es kann doch nicht sein, dass derjenige, der sich ans Gesetz hält, der Dumme ist. Das Ganze ist doch im öffentlichen Interesse.» Und sie meint. «In meiner Tätigkeit als Gemeindepräsidentin bin ich wahrscheinlich schon etwas radikal geworden, weil ich sehe, was die Gemeinde alles bezahlen muss. Irgendwann ist das alles aber nicht mehr zahlbar. Wir sägen am Ast, auf dem wir sitzen. Das geht doch einfach nicht.»
Und wie soll es weitergehen? «Drei der Personen, die verlesen wurden, haben sich bei mir gemeldet und wollen zahlen», sagt Bartholdi. Und: «Wahrscheinlich wird jetzt schon etwas passieren. Ich habe viele Mails bekommen, aus der ganzen Schweiz, und 98 Prozent stimmten meiner Massnahme zu. Wichtig wäre, dass sich weitere Gemeinden zum gleichen Vorgehen entschliessen. Ich habe jedenfalls derartige Zeichen bekommen.» Und wenn sie dennoch zu einer Busse oder gar Haft verurteilt würde? «Ein Strafbefehl würde mich schon belasten», gibt sie zu. «Allerdings dürfte ich trotzdem Gemeindepräsidentin bleiben, nur wirten könnte ich nicht mehr.» Und noch mal wird das Gespräch unterbrochen. «Sie sind doch die Gemeindepräsidentin von Egerkingen. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut.» Diesmal war es die Serviceangestellte.
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