Der Schellen-Ursli als Freerider

Regisseur Xavier Koller mixt in seinem Film Bilderbuch-Erinnerungen, Märchen, Action und Maler-Tricks

Sabine Altorfer
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Starke Bilder: Die Heimkehr des Uorsin (Jonas Hartmann) mit der grossen Glocke. Foto: Frenetic films

Starke Bilder: Die Heimkehr des Uorsin (Jonas Hartmann) mit der grossen Glocke. Foto: Frenetic films

Schweiz am Wochenende

Wie macht man aus einer zehnminütigen Kinderbuchgeschichte einen abendfüllenden Kinofilm? Einen Film, der Kinder wie Erwachsene gleichermassen anspricht? Ansprechen muss, um Erfolg zu haben? Die Figur des Schellen-Ursli allein reicht nicht. Selbst wenn das Kinderbuch von Selina Chönz und vor allem die bunt-naiven Bilder von Alois Carigiet zum kollektiven Bilderschatz der Schweizer gehören.
Anders als beim Heidi fehlt eine Entwicklung, fehlt eine ausführliche Handlung, die man eins zu eins umsetzen könnte. Also mussten Xavier Koller und Stefan Jäger schon fürs Drehbuch eine tragende Rundum-Geschichte erfinden und musste Koller mit Kameramann Felix von Muralt sie so in Szene setzen, dass sie Bilderbuch-Erinnerungen weckt und gleichzeitig etwas Neues, Spannendes – und heute Glaubwürdiges wie Sinnstiftendes erzählt.
Inhaltlich setzt Xavier Koller auf den Kampf Arm gegen Reich, Gut gegen Böse. Plakativ und doch haarscharf an der Simplifizierung vorbei. Glaubwürdig wird der Film dank der drei Kinder. Und stark dank der Bildsprache des Films.
Etwas klischiert, aber bildnerisch wie perspektivisch interessant beginnt der Vorspann: Wie ein Vogel kreisen wir über dem winterlichen Gebirge, sehen die Pyramide des majestätischen Berges, richten den Blick nach unten auf das Dorf, gehen durch die schmalen Gassen mit den Schneemauern und sehen wieder aus der Vogelperspektive das Schellen-Ursli-Haus. Weiss und gelb mit Sgraffiti und dem runden Tor aus dem Bilderbuch.
Es springt auf – schwupp! – wir landen im Sommer und auf der Alp. Da ist er, der Ursli mit seinen Ziegen, er steigt über eine Kuppe – die gewaltige Berglandschaft und der grosse, weite Himmel öffnen sich. Dann verfolgt ihn die Kamera – wieder von oben –, zoomt erst hin, wenn Essenspause ist, wenn Ursli sein Zmittag mit dem Zicklein Zilla teilt. Und wenn er mit dem Feldstecher Ausschau hält, können wir mit ihm die lustigen Murmeltiere und – o Schreck! – einen Wolf im Fernglas sehen. Uorsin zeigt keine Angst. «Du lässt meine Geissen in Ruhe», ruft er ihm zu. Und als er verschwindet, erklärt er sich und den Tieren und uns: «So macht man das.»
Diese Perspektivenwechsel ziehen sich durch – nicht nur bildlich, sondern auch inhaltlich. Wir folgen sowohl dem allwissenden Beobachter wie der Sicht des Buben. Jonas Hartmann spielt ihn glaubwürdig. Und wenn er über die Alpwiese oder die verschneiten Wege rennt, meinen wir Carigiets etwas übertriebenen Laufschritt zu sehen. Wenn wir in die Schulstube blicken oder die Eltern (Marcus Signer und Tonia Maria Zindel) vor dem Ofen sitzen und um ihren Bub bangen, dann erinnern die Kompositionen und das Braun-Beige an Albert Anker. In den Bildern der schwach beleuchteten Stuben und Küchen aber finden wir das raffinierte Hell-Dunkel, die gezielt gesetzten Lichtquellen wie bei Gemälden alter Meister.
So realistisch die Geschichte mit dem verlorenen Käse, dem Hunger und der Verschuldung angelegt sein mag, ab und an treibt es der Film bunt. Dann bekommt die Handlung märchenhafte Züge, und es passiert einiges, was detektivisch veranlagte Filmzuschauer bemängeln können. Etwa wenn der Krämer und Gemeindepräsident unglaublich dumm handelt, der Wolf zum magischen Troubleshooter wird oder die rasante Talfahrt Urslis zum reinen Genuss, nachdem der Aufstieg doch so schwierig war. Doch verzeiht man schnell, denn wie im Märchen ist vieles möglich. Die rasante Schlittelfahrt des Schellen-Ursli auf seiner Glocke ist so unglaublich schön und befreiend wie ein Freerider-Film.
Die Landschaft ist als grandiose Kulisse inszeniert, Berge und Schluchten werden gewaltig ins Bild gerückt und mit sonnigen Weiden, Lärchenwald und verschneiten Hängen kontrastiert. Das Dorf, die Alp und Kleider sind im Postschlitten-Zeitalter gehalten. Die Ausstatter haben ganze Arbeit geleistet.
Wenige Hauptfiguren reichen, um die Geschichte zu erzählen: Herbert Leiser als kurliger Pöstler Giacomin, Peter Jecklin als Lehrer oder Andrea Zogg als behäbiger und respektierter Pfarrer. Leonardo Nigro mag als hinterlistiger Dorfkönig aufgedreht angelegt sein, und ob der elfjährige Laurin Michael die schwierige Rolle als neidischer und hinterhältiger Ursli-Gegner Roman gern gespielt hat, wissen wir nicht. Er macht es gut. Wie Julia Jeker als Seraina – auch sie scheint einem Carigiet-Buch entsprungen – natürlich und herzlich. Was bei allen positiv auffällt: Dialekt und Dialoge stimmen.
So sehen wir eine Geschichte, die Empathie und Identifikation ermöglicht und einen rührt. Bei Kindern wird wohl der Atem stocken und Tränen und Lachen abwechseln. Wie leiden wir, wenn die Mutter fort in die Stadt muss, um Geld zu verdienen, wenn Ursli an Weihnachten – welch wertvolles Geschenk in kargen Zeiten – eine Orange bekommt, wenn Roman sein Zicklein abholt und gar Urslis grosse Geburtstagsglocke für den Chalandamarz ergattert ...
Der Film wird bei kleinen und grossen Zuschauern stets die Sehnsucht nach Gerechtigkeit wachhalten. Die Erleichterung zum Schluss ist programmiert. Die Kinder ziehen mit ihren Glocken zum Dorfbrunnen, voraus der Uorsin mit seiner Riesenglocke. Nach der aus dem Bilderbuch nachgestellten Szene zeigt uns die Kamera das Kreisen wieder aus der Vogelperspektive. So wird der Umzug zum abstrakten Sinnbild der Gemeinschaft – Ursli glücklich mittendrin.
Schellen-Ursli. (CH, 100 Minuten).
Ab 15. Oktober in den Kinos.
Ausstellung Alois Carigiet: Landesmuseum Zürich, bis 3. Januar 2016.
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