Das oberste Prozent hatte im Jahr 1939 letztmals einen so hohen Anteil an der Einkommenssumme. Das Ungleichgewicht könnte sich verschärfen.
Bei den Schweizer Einkommen öffnet sich die Schere. Das zeigen neue Zahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Die bezüglich Einkommen obersten zehn Prozent haben in den letzten Jahren deutlich stärker zugelegt als der Mittelstand und die tiefen Einkommen. Mittlerweile kommen sie für einen Rekordanteil am Steueraufkommen auf.
Über 80 Prozent der direkten Bundessteuern wurde im Jahr 2011 von den obersten zehn Prozent der Lohnempfänger erbracht. Noch 2003 waren es 74 Prozent gewesen. Das oberste Prozent steuert 45 Prozent zu den Erträgen der direkten Bundessteuer bei, die obersten zwei Prozent mit 56 Prozent über die Hälfte. 2005 waren es noch 47 Prozent.
Knapp 12 Prozent der gesamten Einkommensumme verdiente das oberste Prozent im Jahr 2011. Das letzte Mal einen so hohen Anteil hatten die etwa 45 000 Personen 1939. Ihr Anteil an den Einkommen ist tiefer als in den USA, wo das oberste Prozent über 17 Prozent der Einkommen erwirtschaftet, aber auch höher als in Frankreich, wo das oberste Prozent nur etwa einen halb so hohen Anteil an den Einkommen verbucht.
Der Rekord lässt sich zum Teil mit statistischen Effekten erklären. Die Analyse berücksichtigt nur diejenigen Steuerzahler, die überhaupt Bundessteuern abliefern. Zwischen 2010 und 2011, als der Anteil des obersten Prozents um über einen Prozentpunkt stieg, wurden wegen neuer Abzüge 360 000 Personen aus dieser Pflicht entlassen.
Vor allem Familien sind es, die kein Geld nach Bern mehr überweisen müssen. Mittlerweile bezahlen nur noch 54 Prozent der Familien die direkte Bundessteuer, hat die «Handelszeitung» berechnet. Dadurch sank die Gesamtzahl der Steuerpflichtigen, und das oberste Prozent besteht aus weniger Personen, die im Durchschnitt mehr verdienen. Ausserdem, so sagt es der St. Galler Ökonom Reto Föllmi, könne ein einzelnes Jahr auch ein Ausreisser sein.
Doch auch wenn das Jahr 2011 ausgeklammert wird, zeigt sich, dass die obersten Prozente einen immer grösseren Anteil am Einkommenskuchen geniessen.
Dafür gibt es mehrere Gründe. Die Globalisierung und neue, multinationale Firmen begünstigen die Entwicklung ganz besonders. «Die Schweiz hat besonders viele Hauptsitze angezogen», sagt Ökonom Föllmi. «In grösseren Firmen ist der Hebel des Managements höher, die Aufgaben sind komplexer und das Management ist von den Aktionären schwerer überwachbar.» All das trage zu Lohnanstiegen am obersten Ende bei.
Besonders stark gestiegen sind denn auch die Löhne der kleinen Gruppe der obersten 0,01 Prozent. Diese Einkommen haben zwischen 1981 und 2009 um 217 Prozent zugenommen, wie Föllmis Studien zeigen. Nur 450 Personen teilen sich damit über vier Prozent des gesamten Schweizer Einkommens. Zwischen 1997 und 2010, so zeigen es Zahlen des Bundes, hat sich die Zahl der Lohnmillionäre auf über 11 000 vervierfacht. Weniger stark gewachsen sind in derselben Zeitspanne die Löhne des obersten Prozents (+165 Prozent) und der obersten zehn Prozent (+113 Prozent). Zum Vergleich: Gesamthaft sind die Nominallöhne in der Schweiz zwischen 1993 und 2010 um 24,5 Prozent gewachsen. In den letzten fünf Jahren ist der Anteil der untersten zwanzig Prozent an der Einkommenssumme sogar leicht gesunken.
Kein Wunder, hat der französische Ökonom Thomas Piketty mit seinem Buch «Das Kapital im 21. Jahrhundert» einen Weltbestseller gelandet. Der heute praktizierte Kapitalismus, so argumentiert Piketty, führe unweigerlich zu einer Vermögenskonzentration und gefährde die Demokratie. Die Kapitalrendite übersteige das Wirtschaftswachstum schon seit längerer Zeit, stellt Piketty fest – und fordert etwa eine höhere Besteuerung der Superreichen. In einer Zeit, in der Airlines laut einem Bericht der «Financial Times» so viele First-Class-Sitze anbieten wie schon lange nicht mehr, hat der Ökonom damit so heftige Diskussionen ausgelöst wie kaum ein Wirtschaftswissenschafter vor ihm.
In die Diskussion platzt die diese Woche veröffentlichte neue Reichenliste der Zeitschrift «Bilanz». Jeder der 300 Reichsten könnte sich jährlich sechs Zürcher Prime Towers bauen oder auch jedes Jahr eine Firma in der Grössenordnung von Kaba übernehmen. Zwei Milliarden Franken besitzen die vermögendsten Schweizer im Schnitt. Das ist so viel wie noch nie. In den letzten 25 Jahren ist das durchschnittliche Vermögen der Top 300 dreimal so stark gewachsen wie die Wirtschaftsleistung.
Zumindest die Einkommensverteilung sei in der langen Sicht und im internationalen Vergleich hierzulande allerdings relativ stabil, sagt Ökonom Reto Föllmi. Solange breite Einkommensschichten von realen Zuwächsen profitierten, sehe er die Einkommen am obersten Ende nicht als problematisch. Die Bewegung in diesen Einkommen sei immer auch auf Immigration von sehr Reichen oder Hauptsitzen zurückzuführen. Diese Zuzüger führten viele Steuergelder an den Staat ab, was allen zugutekomme. Die Lohn-Entwicklung dürfte weitergehen. Der Trend für die hohen Einkommen, sagt Föllmi, zeige seit 20 Jahren nach oben.
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