Völlig unerwartet tritt die erfolgreichste Schweizer Kunstturnerin aller Zeiten zurück – im Alter von erst 23 Jahren. Die dreifache Sportlerin des Jahres über ihre Popularität, Burnout- und Liebesgerüchte und «die Frau in mir, die leben will».
Ariella Kaeslin, mit Ihrem Rücktritt haben Sie am Montag die ganze Schweiz überrascht. Was verspüren Sie nun, einige Tage danach: Erleichterung? Oder leichte Wehmut?
Gar keine Wehmut. Noch nicht. Die Wehmut kommt wohl dann, wenn ich an Wettkämpfen den anderen beim Turnen zuschaue.
Wie haben Ihre Fans auf den Rücktritt reagiert?
Ich war erstaunt, wie positiv die Reaktionen waren. Ganz viele Leute haben mir zu meinem Entscheid gratuliert. Sie fanden es richtig, dass ich auf mein Herz gehört habe und merkte, dass Erfolg im Leben nicht alles ist. Natürlich waren viele traurig, aber alle haben verstanden, dass ich nun aufhöre.
Auch in den Medien gabs nur Lob für Sie. Wie erklären Sie sich, dass Sie überall so gut ankommen?
Dass ich sogar für den Rücktritt gelobt werde, finde ich schön. Ich hatte mit den Medien immer ein gutes Verhältnis. Vielleicht darum, weil ich zwar eine Spitzensportlerin war, aber auch eine normale junge Lady, die leben und entdecken will – und diese Seite auch nie unterdrückt habe. Ich versuchte immer, die Ariella zu sein.
War das schwierig in der Welt des Kunstturnens, wo viel Show dabei ist?
Die Show gelingt nur, wenn ich authentisch bleibe. Wenn ich etwas Aufgesetztes biete, kommt das schlecht rüber. Da musste ich manchmal meinen Kopf durchstieren. Mein Trainer sagte: Machs so! Dann sagte ich: Nein, das will ich nicht. Etwa, wenn es um die Choreografie ging. Ich fand, wenn es alle so machen, dann mache ich es so, wie es eben für mich passt – eben etwas anders.
War manchmal auch Kalkül dabei? Etwa bei Ihrem gehauchten Kuss bei der TV-Show «Sportlerin des Jahres», mit dem Sie das Publikum entzückten?
Dieser Kuss war keine Show und schon gar nicht einstudiert, sondern spontan und aus dem Moment heraus.
Haben Sie nie schlechte Erfahrungen mit den Medien gemacht?
Ich wartete immer darauf, bis der Hammer kommt. Ich habe mich auf den Moment eingestellt, wo irgendeine negative Geschichte kommt. Aber sie kam nie. Ich wurde immer fair behandelt. Übrigens auch von den Menschen auf der Strasse, sie sind fast immer sehr freundlich.
Sie geniessen das Leben in der Öffentlichkeit?
Ich suche das nicht. Denn ich habe gemerkt: Bekannt zu sein, in den Medien zu kommen – das ist nicht das, was glücklich macht. Aber der Umgang mit der Öffentlichkeit gehörte zu meinem Job, ich fand das interessant und habe sicher nicht darunter gelitten.
Bernhard Russi sagte einmal, dass er Charaktereigenschaften, welche die Medien loben, fast unbewusst zu übernehmen begann, obwohl er spontan vielleicht anders reagiert hätte. Ertappten Sie sich auch schon bei solchen Reaktionen?
(Denkt nach) Diese Gefahr besteht sicher. Ich habe von Zeit zu Zeit in mich selber hineingeschaut und mich gefragt: Wo lüge ich mich selber an? Wenn ich da etwas entdeckte, räumte ich auf, um wieder mit mir ins Reine zu kommen. Weniger wegen der Medien, sondern weil ich gegenüber der Familie und Freunden echt und ehrlich sein möchte.
Der «Blick» spekulierte diese Woche, Sie seien «wegen der Liebe» zurückgetreten.
Da musste ich lachen.
Stimmt es denn nicht?
Es hat überhaupt nichts damit zu tun. Ich bin Single...
...und das ist gut so?
Das ist tipptopp so.
Für eine Frau, die so prominent ist wie Sie, ist es schwieriger, jemanden kennen zu lernen?
Da braucht es halt ein Gespür: Wer ist wirklich an mir interessiert, und wer nur an der Turnerin? Das ist nicht immer einfach, aber inzwischen weiss ich damit umzugehen.
Sie werden wohl nebst Fanpost auch Liebesbriefe oder gar Heiratsanträge erhalten?
Liebesbriefe habe ich schon bekommen. Heiratsanträge noch nie. Die würde ich auch sofort ablehnen (lacht).
Kann man als Spitzensportlerin auf diesem Niveau überhaupt eine Beziehung führen?
Das ist sicher nicht einfach, aber es geht. Man muss einfach Prioritäten setzen und einen Freund haben, der sehr viel Verständnis hat.
Wünschen Sie sich später einmal eine Familie?
Eine Familie hat noch ganz lange Zeit. Zuerst will ich richtig leben. Ich denke, vor 30 ist eine Familie für mich kein Thema.
Heisst das, dass Sie bis jetzt nicht richtig gelebt haben?
Nein, ich würde wieder alles gleich machen und hatte nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Ich habe nun eine super Ausgangslage für mein Leben: Ich habe schon so viel erlebt, bin fit, habe gute Voraussetzungen für andere Sportarten, mir bleibt genug Zeit für weitere Ausbildungen – was will ich mehr.
Könnten Sie sich eine Karriere in einer anderen Sportart vorstellen?
Als Leistungssportlerin eher nicht. Aber ich muss etwas finden, bei dem ich ähnlich Emotionen ausleben kann wie beim Turnen. Sonst wirds mir langweilig.
Sie erwähnten einmal Marathon. Ein Traum?
Seit ich klein bin, fasziniert mich der Marathon. Er ist auf meiner To-do-Liste. Schauen wir mal.
Können Sie sich eines Tages das Comeback als Kunstturnerin vorstellen?
Das denke ich nicht.
Das tönt nicht so absolut...
Sag niemals nie. Aber ich habe es nicht im Sinn.
Wann haben Sie eigentlich gemerkt, dass Sie Ihre Turnkarriere beenden möchten?
Es gab keinen Moment, in dem mir das klar wurde. Ich habe mein Leben immer hinterfragt, doch nach der Europameisterschaft in Berlin vor drei Monaten hatte ich zunehmend Zweifel, ob ich wirklich noch voll hinter dem Spitzensport stehen kann. Immer mehr spürte ich: Die normale Frau in mir drückt durch. Die Frau, die leben will.
Was geschah in Berlin, wo Sie EM-Bronze holten?
Ich sagte immer: Ich will einmal trainieren, bis ich umfalle, bis ich nicht mehr mag. Und in Berlin war ich wirklich kurz davor. Zum Glück habe ich das erlebt.
Nach der EM sagten Sie einmal, Sie könnten schlecht schlafen. In einer Zeitung fanden Sie ein WG-Inserat und meldeten sich. War das der Anfang Ihres Rücktritts?
Ich suchte schon lange eine Wohnung, vor allem für die Wochenenden – um noch etwas anderes zu haben neben dem Turnen. Vom Rücktritt wusste ich damals noch nichts.
Aus Ihrem Umfeld verlautete, dass Sie fast ein Burnout hätten. Ist das übertrieben?
Das ist wirklich übertrieben. Wenn man an seine Grenzen kommt, hat man doch nicht gleich ein Burnout. Ich stand jeden Morgen auf und wusste, was ich zu tun hatte. Ich hatte nie Motivationsprobleme.
Fühlten Sie sich manchmal einsam, gewissermassen im goldenen Käfig?
Ich würde ein anderes Bild brauchen: Ich war an einer Leine, die ich selber in den Händen hielt und die ich extrem eng halten musste. Manchmal so eng, dass ich gewürgt wurde. Aber hätte mir jemand die Leine abgenommen, so hätte ich sie mir selber wieder umgebunden.
Turnen ist eine der härtesten Sportarten, fast schon Schinderei. Braucht es dafür ein bisschen Masochismus?
Irgendwie schon. Du musst dich gern quälen. Das stimmt.
Woher nahmen Sie in all den Jahren die Selbstdisziplin, sich zu quälen?
Ich liebe den Sport, und ich brauche ihn. Auch jetzt. Nun gehe ich zwei Wochen in die Ferien und werde dort viel Sport machen. Während und nach dem Sport – das ist ein super Gefühl. Ich kann meine Gedanken sortieren, bin allein, spüre den Körper – und habe dann die besten Ideen. Beim Joggen oder auf dem Velo konnte ich auch am besten über den Rücktritt nachdenken. Dann war ich komplett ohne Einfluss von aussen.
Hat Ihre Karriere keine körperlichen Spuren hinterlassen?
Ich hatte zum Glück nur kleine Verletzungen, nie etwas Grosses. Ich bin körperlich fit und spüre einzig eine gewisse Müdigkeit, die sich über die Jahre hinweg in mir aufgestaut hat.
Sie sind 23, die meisten Ihrer Turnkolleginnen und Konkurrentinnen sind sechs, sieben Jahre jünger. Gibt es da noch gemeinsame Gesprächsthemen?
Ich hatte keine Mühe damit. Sie hielten mich jung. Und ich konnte mit ihnen auch das Mädchen in mir ausleben, das ich ein Stück weit noch immer bin. In meiner Freizeit habe ich dann Kontakt zu Gleichaltrigen und Älteren. In unserer WG wurde über Recht und Wirtschaft diskutiert, wegen des Studiums der Mitbewohner.
Sie konnten als einzige Kunstturnerin von diesem Sport leben. Haben Sie genug Geld auf der Seite, sodass Sie die Zukunft gelassen angehen können?
Zum Glück nicht! Das wär ja langweilig. Ich stehe sicher nicht auf der Strasse, aber ich muss schon schauen, dass ich wieder etwas Spannendes mache.
Was, glauben Sie, sind die entscheidenden Gründe für Ihren sportlichen Erfolg?
Mein persönliches Umfeld und sicher auch mein Trainer Zoltan Jordanov, der mich akzeptierte, wie ich bin und der nicht nur die Spitzensportlerin in mir sah, im Gegensatz zu meinem früheren Trainer.
Mit einer Rebellen-Aktion entledigten Sie sich des früheren Nationaltrainers, dem entgangen war, dass aus Teenagerinnen selbstbewusste junge Frauen geworden waren. Ein Schlüsselerlebnis?
Ja, wenn man etwas erreichen möchte, muss man manchmal auch die Konfrontation wagen und dazu stehen, dass man eine andere Meinung hat.
Woher kommt Ihre Willensstärke? Ist die angeboren oder antrainiert?
Mein Mami ist meine Mentaltrainerin, und ich begann schon früh, bei jedem Training und bei jedem Wettkampf meine Gedankengänge zu beobachten. Daran arbeitete ich viel, die mentale Stärke ist letztlich entscheidend.
Sie hatten an keinem einzigen Ernstkampf einen Aussetzer. Das ist ziemlich einmalig. Sie sollten Penalty-Trainerin unserer Fussball-Nati werden!
Ich vertraute schon auf Mentaltraining, als es noch hiess: Das ist nur für die psychisch Gestörten. Plötzlich wurde es dann anerkannt, und heute macht es jeder. Ob ich einmal Trainerin werde... ich glaube nicht, dass ich die Geduld dazu hätte. Aber irgendwie möchte ich mein Wissen schon weitergeben.
Der heutigen Jugend wirft man oft fehlende Selbstdisziplin und mangelnde Willensstärke vor. Was haben Sie für Tipps?
(Denkt nach) Wichtig ist das Umfeld. Aber man kann auch einiges lernen. Wenn man ein Ziel vor Augen hat, das man unbedingt erreichen möchte, kann man fast alles lernen. Vor einem entscheidenden Einsatz dachte ich immer: Ich kann es, ich glaube an mich. Und dann schaltete ich alle Gedanken aus und legte los. Letztlich geht es darum, die Angst vor dem Versagen zu besiegen.
Wie macht man das?
Sich immer wieder in Situationen hineindenken. Dazu muss man wissen, wie man selber tickt. Ich habe auch angefangen, vor den Wettkämpfen dieselben Rituale zu pflegen. Und diese Rituale wiederholen. Dann hat man das Gefühl, man habe die Wettkampfsituation schon 100000-mal durchgemacht. Das gibt Sicherheit.
Was macht Ariella Kaeslin in einem Jahr?
Ich bin keine Wahrsagerin.
Worauf freuen Sie sich am meisten?
Einfach mal auszuschlafen, und mich dann zu fragen: Was willst du heute machen? Bis jetzt war ja alles so vorgegeben. Jetzt kann ich meinem Herzen folgen.
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