Beim Bund weiss niemand, wo sich die Impf-Dosen zurzeit befinden. Es gibt keine Koordination. 14 Kantone haben den Impfstoff offenbar bereits, nicht einmal die Gesundheitsdirektoren sind informiert.
VON OTHMAR VON MATT, CLAUDIA MARINKA UND FRÄNZI RÜTTI-SANER
Die Premiere geschah in Solothurn.
Eine Kinderpraxis begann gestern als landesweit erste mit Schweinegrippe-Impfungen: Chronisch kranke Kinder erhielten den Impfstoff Focetria. In anderen Kantonen wundert man sich. Sie warten ungeduldig auf die beiden Impfstoffe Focetria (Novartis) und Pandemrix (Glaxo Smith Kline).
Gestern wurden offenbar weitere 13 Kantone beliefert, wie die mit der Logistik beauftragte Firma Voigt bekannt gab. Es handelt sich um AG, BL, ZH, FR, JU, NE, ZG, VS, TG, AI, SG, SH, TI. Allerdings herrscht Verwirrung.
Weshalb gerade Solothurn so schnell war, kann sich gegenüber dem «Sonntag» nicht einmal Gesundheitsdirektor Peter Gomm erklären. Oliver Adam, Arzt der Gruppenpraxis für Kinder und Jugendliche am Bürgerspital Solothurn, sagt, der Impfstoff sei via Kantonsarzt «überraschend» an die Spitalapotheke gelangt.
Beim Bund kann niemand sagen, wie viele ImpfDosen schon in der Schweiz sind. «Ich weiss es nicht genau», räumt Jean-Louis Zürcher ein, Sprecher des Bundesamts für Gesundheit (BAG). «Noch nicht alle zwei Millionen, vielleicht etwa 1,2 Millionen Dosen.» Rein gar nichts weiss man beim BAG darüber, wo sich die Dosen zurzeit befinden.
«Sie müssen jeden Kanton anfragen, ob er schon etwas bekommen hat», sagt Zürcher. «Ich wüsste nicht, wer vor Montag ein Gesamtbild hat.» Und: «Ich kann nur sagen, dass am Montag, 16. November, in der Schweiz ungefähr zwei Millionen Impfdosen verteilt sein werden.»
Jetzt kritisieren Kantone die chaotische Auslieferung. Die Situation sei «schwierig, weil die Informationen vom Bund jeweils relativ kurzfristig erfolgten und sich rasch änderten», sagt Balz Bruder, Infochef des Aargauer Gesundheitsdepartements.
«Häufig unvollständig informiert» fühlt sich der Berner Kantonsapotheker Samuel Steiner. Er kritisiert auch das Vorgehen: «Man hätte frühzeitig eine Arbeitsgruppe zwischen Bund und Kantonen einrichten sollen, um das Problem der Distribution auf nationaler Ebene zu lösen.»
Verschärft wird die Situation dadurch, dass die 500-Spritzen-Grosspackungen Pandemrix aufwändig in allen Kantonen in Zehnerpackungen umgerüstet werden müssen. Für den Kanton Zürich dauert das eine ganze Woche. «Wir wiesen das BAG schon vor einem Jahr auf die Problematik hin», betont der Berner Kantonsapotheker Steiner.
Massive Kritik richtet sich auch an Swissmedic und ihre Präsidentin Christine Beerli. Die Zulassungsbehörde war beim Impfstoff 23 Tage langsamer als die EU, wie die «Mittelland Zeitung» herausfand. «Wir wollen, dass die Geschäftsprüfungskommission das untersucht», sagt SVP-Nationalrat Jürg Stahl, Präsident der Gesundheitskommission.
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«IMPFSTOFF WIRD FÜR ALLE REICHEN»
Swissmedic-Präsidentin Christine Beerli äussert sich zur Kritik am langwierigen Zulassungsverfahren des Impfstoffs gegen die Schweinegrippe.
VON CLAUDIA MARINKA
Frau Beerli, Sie behaupten, die Zulassung des Impfstoffs sei erst im August beantragt worden. Hersteller Glaxo-SmithKline informierte jedoch, dass das bereits am 30. Juli gewesen sei. Haben Sie gelogen? .
Ob 30. Juli oder Anfang August, ist kein grosser Unterschied es kann gut sein, dass das Gesuch bei uns erst Anfang August erfasst wurde.
Um den Impfstoff zuzulassen, brauchte Ihre Behörde gemäss "Mittelland Zeitung" 23 Tage länger als die EU. Warum dieses Schneckentempo? .
Die EU hatte aufgrund der Bearbeitung des Vogelgrippe-Pandemiestoffs mehr Basiswissen als wir. Sie hatte schon einige Studien vorliegen. Wir mussten den Wissensvorsprung nachholen und vertiefende Studien machen.
Studien über was? .
Darüber, wie sicher und wirksam der Wirkstoff ist.
Hätte man dies nicht schneller vorantreiben können? .
Nein. Swissmedic hat mit hoher Qualität und grösstmöglicher Anstrengung gearbeitet.
Waren die Resultate von der EU nicht ausreichend für den Schweizer Markt? .
Es gibt aus rechtlichen Gründen keinen Austausch von Daten wissenschaftlicher Studien. Das ist etwas, was wir schon seit längerem anstreben. Wir sollten eine Vereinbarung mit der EU haben, um solche Daten austauschen zu können.
Hätte man im jetzigen Notfall nicht doch zusammenarbeiten können? .
Wir müssen die Begutachtung der Unterlagen selber machen, damit wir nachher überwachen und beurteilen können, wie der Impfstoff wirkt und welches allfällige Nebenfolgen sind. Dafür brauchen Sie Einsicht in Studien. Bei der Marktüberwachung haben wir gemeinsam mir der WHO ein innovatives Instrument entwickelt. Das so genannte Pani-flow ermöglicht eine gute und schnelle Marktüberwachung und ist von anderen Làndern übernommen worden. Seit dem 1. Oktober ist es einsatzbereit.
Sie kamen letztlich zum selben Resultat wie die EU? .
Wir sind zum Schluss gekommen, dass die Impfstoffe sicher und wirksam sind und zugelassen werden können.
Das BAG sagt, es habe intensive Gespräche mit Swissmedic gegeben. Man habe auf die Dringlichkeit hingewiesen und ausdrücklich gewarnt. .
Das haben wir sehr ernst genommen. Wir haben das BAG laufend über den Stand unserer Arbeiten orientiert Auch mit der Industrie haben wir gut zusammengearbeitet und die Medikamente sehr schnell zugelassen.
Gemäss BAG wurde der Impfstoff erst am 30.Oktober zugelassen... .
Nein, Pandremix haben wir schon am 23.10. zugelassen, Focetria am 27. Oktober.
Aber laut BAG habe man am 30. Oktober dann noch die Etikettierung machen müssen, was zu einer Verzögerung geführt habe. .
Die Logistik ist nicht unsere Sache. Wir sind für die Zulassung zuständig.
Was heisst das? .
Dass Abpackung und Verteilung des Impfstoffes nicht in den Zuständigkeitsbereich von Swissmedic fallen
Wissen Sie wo der Impfstoff gelagert wird? .
Nein, das weiss ich nicht.
Was sagen Sie dazu, dass die Schweiz gegenüber Deutschland hinterherhinkt?
Ich denke nicht, dass die Schweiz schlechter gestellt ist. Wir haben zwei Impfstoffe zugelassen und in den nächsten 14 Tagen fällt der Entscheid über das dritte Medikament. Es hat für alle genügend Impfstoffe, was längst nicht in jedem anderen Land der Fall ist.
Fakt ist doch: Die Pandemie ist da, und es gibt nicht genug Impfstoff für alle Kinder, also auch diejenigen, die nicht zur Risikogruppe gehören. .
Momentan hat es genug Impfstoff für diese Kinder. Sofern es nötig wird, dass man alle Kinder impft, wird auch für den Rest genügend Impfstoff vorhanden sein.
Die Kantone sehen das anders. .
Dazu kann ich keine Stellung beziehen.
Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Kritik an Swissmedic? .
Wir haben verantwortungsbewusst gehandelt. Wir lassen Impfstoffe zu, die auch gesunden Menschen verabreicht werden - da spielt die Sicherheit neben der Geschwindigkeit eine grosse Rolle. In den nächsten Wochen wird der Ablauf des ganzen Prozesses mit allen Beteiligten (BAG, Kantone und Swissmedic) diskutiert, um allfälligen Verbesserungsbedarf zu orten.