Urdorf
Bloss nicht zurück: Sie fürchten sich vor der Rückkehr in die unteridische Unterkunft

Ein 27-jährige Afghane steckte sich im Rückkehrerzentrum in Urdorf mit Corona an. Im Erlenhof wartet er auf die ungewisse Zukunft.

Lydia Lippuner
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Solidarität vor dem Fenster: Der 27-jährige Asylsuchende sah die Demonstranten von seinem Zimmer aus. Bild: zvg

Solidarität vor dem Fenster: Der 27-jährige Asylsuchende sah die Demonstranten von seinem Zimmer aus. Bild: zvg

Limmattaler Zeitung

Der 27-jährige Afghane hat ein Foto von den Demonstranten geschossen, die vor seinem Fenster vorbeigezogen sind. Diese hätten sich mit ihm solidarisiert, sagt der abgewiesene Asylbewerber. «Ich bin dankbar, dass diese Leute unsere Stimme sind und unseren Schmerz fühlen.»
Rund 100 Personen hatten am Donnerstag vor und hinter dem früheren Pflegeheim Erlenhof demonstriert. Darin halten sich derzeit die 36 Bewohner des Rückkehrzentrums (RKZ) Urdorf auf; nachdem 16 von ihnen positiv auf das Coronavirus getestet wurden, wurde die unterirdische Anlage vor­übergehend geschlossen und alle abgewiesenen Asylbewerber wurden in der Liegenschaft nahe der Zürcher Langstrasse in eine zehntägige Quarantäne gesteckt. Das RKZ Urdorf sei ein Bunker, dieser gehöre definitiv geschlossen, hatten die Teilnehmer der unbewilligten Kundgebung gefordert. Diese fand am Tag statt, nach dem zwei Männer aus dem Fenster des «Erlenhofs» gesprungen waren. Ein 19-jähriger Algerier befindet sich mit Frakturen noch in Spitalpflege, wie die Kantonspolizei Zürich am Freitag mitteilte. Dessen 23-jähriger leicht verletzter Landsmann befindet sich wieder im «Erlenhof». Wieso die beiden gesprungen seien, wisse er nicht, sagt der 27-jährige Afghane im Gespräch mit der «Limmattaler Zeitung». Alle Männer hätten aber vor allem etwas gemein. «Wir wollen nicht mehr zurück in die unterirdische Unterkunft in Urdorf.»

Die Nachricht des Coronaausbruchs im RKZ sorgte für Unmut beim Bündnis «Wo Unrecht zu Recht wird». Die Aktivisten warnten bereits zu Beginn der Coronakrise vor einem Virenausbruch. Am Freitag erhielten sie Unterstützung durch die kantonale SP. In einem Communiqué mit dem Titel «Der Regierungsrat muss über die Bücher» wiederholen die Sozialdemokraten ihre Forderung, dass das RKZ in Urdorf geschlossen werden müsse. «Die Ansteckung eines Grossteils der Bewohnenden und zweier Betreuender ist der traurige Beleg dafür, dass der Schutz in einer unterirdischen Unterkunft nicht gewährleistet werden kann», schreibt die SP. Damit kritisiert die SP auch ihren eigenen Regierungsrat Mario Fehr, welcher der Sicherheitsdirektion vorsteht. Die Partei sieht aber von Rücktrittsforderungen ab. Diese seien «erfahrungsgemäss eher selten ein geeignetes Mittel, um einen konkreten Fortschritt zu erreichen».

Die Jungpartei gibt sich weniger nachsichtig: «Genug ist genug. Die Juso fordern den sofortigen Rücktritt von Mario Fehr. Wer in einer Krisensituation dilettantisch gegen jeden ärztlichen Rat agiert und die Gesundheit von Asylsuchenden gefährdet, darf und kann nicht Vorsteher einer Direktion sein», sagt Lilli Wiesmann, Co-Präsidentin der Juso Kanton Zürich.

Lesen und schreiben statt Fussballspielen

«Glücklicherweise hatte keiner von uns sehr starke Symptome», sagt der abgewiesene Asylsuchende aus dem «Erlenhof». Einige Männer hätten Husten und Fieber gehabt. Er selbst hatte wegen der Covid-Infektion kein Geschmacksempfinden mehr. «Doch nun geht es mir bereits besser und ich warte darauf, was der erneute Test zeigt.» Wieder ist warten angesagt. Sich gedulden und Zeiten überbrücken, lernte der 27-Jährige bereits viele Male in den letzten Jahren. Denn Arbeiten, um Geld zu verdienen, oder Lernen darf er nicht. Deshalb liest er: Zurzeit schmökert er sich durch den Roman des afghanischen Bestsellerautors Khaled Hosseini. Ein anderes Hobby verschob er auf die Zeit nach der Quarantäne: Seit er siebenjährig ist, spielt er Fussball. «Ich trainierte zweimal in der Woche im FC Tofan», sagt er. Tofan ist das persische Wort für Wind. Bis er diesen wieder wehen spürt, lässt er seine Gedanken kreisen und bringt sie auch auf Papier. «Manchmal schreibe ich auch alles auf, was mich bewegt», sagt er.
Sein Wunsch wäre, eine Ausbildung zu machen und als Reporter zu arbeiten. «Dafür müsste ich aber Deutsch lernen können. Da ich kein Anrecht auf einen Deutschkurs habe, bringe ich mir diese Sprache jetzt selbst bei.» Die acht Franken Nothilfe pro Tag, die er als abgewiesener Asylbewerber erhält, reichen für nicht viel mehr als die nötigsten Ausgaben für Essen und Kleidung. Dennoch versuche er, sich irgendwie sinnvoll betätigen zu können. «Ich koche regelmässig bei der Heilsarmee als Freiwilliger», sagt er. «Ich muss mich positiv beschäftigen, sonst werde ich noch psychisch krank.»

Abgewiesene Asylsuchende oder Schwerverbrecher

Die Sicherheitsdirektion schrieb in einer Medienmitteilung vom Mittwoch: «Im RKZ Urdorf werden nur Männer untergebracht, die straffällig wurden oder aus disziplinarischen Gründen nicht in anderen Unterkünften bleiben können.» Das heisse, sie seien, seit sie in der Schweiz sind, wiederholt dadurch aufgefallen, dass sie sich an keine Regeln halten. Die Anwältin Laura Aeberli zeigt sich über diese Mitteilung irritiert. Sie hat bereits mehrere Mandanten aus dem RKZ betreut. «Diese Mitteilung wirkt, als wären alle Männer im RKZ schwere Straftäter. Dabei hat beispielsweise mein aktueller Mandant keine Straftaten begangen.» In seinem Strafregisterauszug seien nur die Vorstrafen aufgeführt, die er erhalten habe, weil er sich aufgrund seines abgewiesenen Asylgesuchs illegal in der Schweiz aufhalte, sagt sie.
Auch der afghanische Hobbyfussballer sagt, er habe keine Straftat begangen – ausser dass er illegal hier sei. Als er vor fünf Jahren in die Schweiz gekommen war, stellte er einen Asylantrag. Dieser wurde abgelehnt. Deshalb sollte er ausreisen, doch eine Rückkehr nach Afghanistan ist für ihn nicht möglich, wie er sagt. «Das wäre mein sicheres Todesurteil.» Er ist das älteste von vier Geschwistern. Nachdem er das Gymnasium abschloss, ging er in den staatlichen Militärdienst, um seine Familie zu unterstützen. Deshalb wurde er zur Zielscheibe der Taliban. «Sie würden mich sofort umbringen.» Deshalb stecke er nun seit Jahren in Urdorf fest. «Ich habe vier Jahre Zeit verloren in der Notunterkunft, aber das ist immer noch besser, als zu sterben.»

Mit den anderen Männern in der Unterkunft pflege er oberflächliche Kontakte, tiefe Gespräche gebe es selten. Jeder habe seine eigene Geschichte. Wie die momentane Corona-Geschichte ausgeht, ist noch ungewiss. Trotz der Nachricht, er müsse nach Urdorf zurück, hofft der Afghane, dass es eine andere Lösung gibt. «Es ist ein schlimmer Ort. Besonders jetzt mit der Gefahr der Ansteckung durch das Coronavirus ist es sehr unangenehm», sagt er. Am Ende seien sie alle ganz normale Menschen, die sich auch vor der Krankheit fürchteten.