Leitartikel
Besinnen wir uns auf unsere Werte!

Chefredakteur Christian Dorer zum Jahreswechsel 2016/2017: «Wer Erfolg haben will, muss nicht nur die richtigen Entscheide fällen. Er darf vor allem keine fundamentalen Fehler begehen.»

Christian Dorer
Christian Dorer
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Der 1. August – Nationalfeiertag und mit Höhenfeuern und Schweizerfahnen auch ein wichtiger Tag der Schweizer Werte. (Symbolbild)

Der 1. August – Nationalfeiertag und mit Höhenfeuern und Schweizerfahnen auch ein wichtiger Tag der Schweizer Werte. (Symbolbild)

KEYSTONE/JEAN-CHRISTOPHE BOTT

Auch das Unmögliche ist möglich. Das ist eine Erkenntnis von 2016. Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass der neue US-Präsident Donald Trump heissen würde? Dass Grossbritannien aus der EU austritt? Dass Terroristen Lastwagen als Waffen benützen? Dass Syriens Diktator Baschar al-Assad wieder fest im Sattel sitzt?

Die Geschichte hält sich nicht an unsere Erwartungen. Die Geschichte gelangt auch nie an ihr Ende, wie viele nach dem Fall des Eisernen Vorhangs meinten. Und die Geschichte verläuft auf lange Sicht nie linear.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs befinden wir uns deshalb in einer Sonderphase: Es ging immer bergauf. Allmählich stirbt die Generation aus, die grosse Rückschläge erlebt hat, ja die bei null beginnen musste.

Die Generationen der unter 75-Jährigen haben nur eine Richtung erlebt: Aufwärts. Praktisch jede Generation zuvor war mindestens einmal im Leben in einen Krieg involviert – heute unvorstellbar!

In der Schweiz geht es uns gut wie noch nie. Nie zuvor konnten wir uns materiell so viel leisten, so weit reisen, so gute Ausbildungen absolvieren, so viel Freizeit verbringen; nie zuvor wurden wir medizinisch so gut versorgt, nie zuvor war das Leben dank technischer Hilfsmittel so angenehm.

Wir ertragen keine ungelösten Probleme

Anderseits aber, und das ist das Paradoxe: Wir sind verunsichert und ertragen keine ungelösten Probleme. Uns ist das Bewusstsein abhanden gekommen, dass es nicht immer aufwärtsgehen kann und dass sich die Geschichte immer schon in Zyklen abgespielt hat. Gleichzeitig ziehen wir keine Lehren aus der Geschichte, wie der Deutsche Philosoph Hegel richtig erkannt hat.

Und dann geschehen Dinge, deren Folgen wir nicht abschätzen können.

  • Die Globalisierung zeigt allmählich ihre Folgen, und wir erkennen: Es ist längst nicht so, dass es auch den Armen ein bisschen besser geht, wenn es den Reichen sehr viel besser geht. Fast alle müssen sich heute dem globalen Wettbewerb stellen; dazu kommt die digitale Revolution, die alles umpflügt. Das führt zu Verunsicherung: Gibt es meinen Job in zehn Jahren noch? Oder steht der ganz grosse Umbruch bevor? Finde ich mich in dieser neuen Welt noch zurecht?
  • Die Flüchtlinge kommen nach wie vor nach Europa. Noch immer gibt es keine gemeinsame Übereinkunft, wer zurückgeschickt und wer aufgenommen wird, und falls letzteres: Wo? Jedes Land schaut für sich, der europäische Gedanke funktioniert nicht.
  • Schlagzeilen über Terror sind beinahe Alltag geworden. Jeder Fall ist tragisch. Trotzdem lässt sich unsere Gesellschaft nicht lähmen. Wenn jederzeit überall etwas passieren kann, ja was soll man tun? Sich einigeln geht auf Dauer nicht. Und bei aller Tragik darf man feststellen: Offenbar gibt es nicht Tausende von Schläfern, die alle paar Tage ein Blutbad anrichten könnten. Es handelt sich um eine begrenzte Anzahl Extremisten. Sie zu bekämpfen muss eine prioritäre Aufgabe der Staatengemeinschaft sein.

Experimente können auch schiefgehen

Die Schweiz werden 2017 zudem spezifische Themen beschäftigen, allen voran – einmal mehr – unser Verhältnis zu Europa. Immerhin ist jetzt klar, wie das Parlament der Zuwanderung begegnen will: Mit ziemlich zahnlosen Massnahmen, die dafür die bilateralen Abkommen mit der EU nicht gefährden.

Vielleicht geht die Zuwanderung wegen anderen Faktoren trotzdem zurück. Dann umso besser. Andernfalls werden wir darüber abstimmen müssen, was uns wichtiger ist: die autonome Steuerung der Zuwanderung oder die Abkommen mit der EU.

Wie wird die Schweiz in den grossen Fragen unserer Zeit agieren? Rundherum werden Experimente gewagt, aus Misstrauen gegenüber den bisherigen Entscheidungsträgern, aber wohl auch wegen der – gefährlichen! – Überzeugung, dass ohnehin nichts völlig schiefgehen kann.

Den Briten ist viel Glück zu wünschen mit dem Brexit – vielleicht wird er zu einem Befreiungsschlag, vielleicht aber auch zu einem wirtschaftlichen Debakel. Den USA ist viel Glück zu wünschen mit ihrem Präsidenten – vielleicht bringt er erfrischende Ansätze. Wenn er aber nur die Hälfte seiner Ankündigungen umsetzt, dann gute Nacht USA.

Die Schweiz sollte bei ihren Entscheidungen auf Experimente à la Brexit und Trump verzichten. Wir sollten uns auf unsere Werte besinnen, gerade in turbulenten Zeiten und im Wissen darum, dass die Geschichte nicht linear verläuft.

Was machen Schweizer Werte aus? Weder Experimente noch Extreme. Sondern andere Meinungen akzeptieren, sie zusammenführen, ausdiskutieren und in einen Kompromiss münden lassen.

Das ist weder einfach noch spektakulär. Aber es funktioniert. Denn wer Erfolg haben will, muss nicht nur die richtigen Entscheide fällen. Er darf vor allem keine fundamentalen Fehler begehen.