Korallenriffe bilden einen der faszinierendsten Lebensräume der Erde. Doch die Regenwälder der Meere sind durch steigende Wassertemperaturen bedroht.
VON MARTIN AMREIN
Es waren die ersten Seefahrer des Nordmeeres, die einst das Wort «Riff» prägten – sie bezeichneten damit Felsbänke, die ihre Schiffe an der Durchfahrt hinderten. Die Aktualität erinnert in unangenehmer Weise an den Ursprung des Begriffs: Letzte Woche fand die Fahrt eines chinesischen Kohlefrachters in einem Riff vor Australien ihr jähes Ende. Nur: Bei der besagten Untiefe handelt es sich nicht um eine unbedeutende Sandbank, sondern um das Great Barrier Reef – das grösste Korallenriff der Welt. 950 Tonnen Öl, die dem aufgelaufenen Frachtschiff als Treibstoff dienten, drohen Teile des Unesco-Weltnaturerbes zu verpesten – noch immer laufen die Abpumparbeiten.
Das Great Barrier Reef ist der prominenteste Vertreter eines faszinierenden Lebensraums: «Korallenriffe gelten als die Regenwälder der Meere – sie ermöglichen eine riesige Artenvielfalt», sagt Gert Wörheide, Professor für Geo- und Umweltwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wörheide ist Experte für das Great Barrier Reef, das mit seinen rund 360 Korallenarten die grösste von Lebewesen geschaffene Struktur auf der Erde bildet – vom Weltraum aus ist es mit blossem Auge zu erkennen. Das gigantische Riff erstreckt sich über mehr als 2300 Kilometer an der australischen Ostküste und beheimatet fast 2000 Fischarten sowie Tausende von Muschelarten und Schwämmen.
Eine fantastische Welt eröffnet sich in Korallenriffen: Fein verästelte Hirschgeweihe und bunte Riesenhirne scheinen durch das klare Wasser zu schimmern. Papageifische knabbern mit ihren schnabelähnlichen Mäulern an Korallenstöcken, orange-weiss gestreifte Clownfische verstecken sich darin. Gewaltige Zackenbarsche und Riffhaie ziehen ihre Runden. Meeresschildkröten treiben elegant an badewannengrossen Riesenmuscheln vorbei.
«Die Höhlen, Abhänge und Kalktürme, die durch die Lebensweise der Korallen entstanden sind, bieten einen Lebensraum von gewaltiger Diversität», sagt Wörheide. Das harte Aussenskelett von Polypen – kleine wirbellose Tiere, die mit den Quallen verwandt sind – bildet das Grundgerüst der Korallenriffe. Die Tiere leben in Kolonien, wobei die einzelnen Individuen in ihren Kalkschalen sitzen. Sterben die Polypen, bleibt ihr Skelett erhalten und nachfolgende Generationen siedeln sich darauf an. Seit mehr als 400 Millionen Jahren wachsen Korallenriffe auf diese Weise und können dabei etliche hundert Meter dick werden.
«Essenziell für das Überleben der Korallenpolypen ist eine faszinierende Symbiose», erklärt Wörheide. Im Gewebe der Polypen leben mikroskopisch kleine Algen, so genannte Zooxanthellen. «Die einzelligen Algen versorgen die Korallen mit fotosynthetisch produziertem Zucker, im Gegenzug geniessen sie in den Korallenstöcken Schutz vor Fressfeinden», so der Geobiologe.
Weltweit leben Korallen auf einer Fläche von rund 600000 Quadratkilometern. Jährlich lagern sie 640 Millionen Tonnen Kalk ab. Beinahe alle Riff bildenden Korallenarten sind sehr temperaturempfindlich und können nur dort wachsen, wo die Wassertemperatur selten unter 20 Grad Celsius fällt. Deshalb kommen Korallenriffe nur in den Tropen zwischen 30 Grad nördlicher und 30 Grad südlicher Breite vor.
Allerdings könnte ihre Temperaturempfindlichkeit den Unterwasser-Paradiesen zum Verhängnis werden: «Korallen leiden sehr stark an der Klimaerwärmung», sagt Wörheide. Wenn sich das Wasser erwärme, führe das zur Korallenbleiche. Dabei verlieren die Korallen erst ihre Symbionten, dann ihre Farbe und sterben schliesslich ab. Noch in den Achtzigerjahren waren nur einzelne Riffe in der Karibik, im Pazifik und im Indischen Ozean betroffen. Im Hitzejahr 1998 erfasste die Korallenbleiche jedoch alle Riffe tropischer Gewässer – über Monate lag die Wassertemperatur grossflächig ein bis drei Grad über dem Durchschnitt. Besonders stark traf es die Malediven. Dort starben in dieser Zeit mehr als 90 Prozent der Korallen ab.
Wörheides Prognose für die Zukunft der Korallenriffe ist ernüchternd: Wenn der Mensch die CO2-Emissionen nicht zurückfahre, sehe es für die Regenwälder der Meere düster aus. «Der Klimawandel, aber auch die Überfischung der Meere und die intensive Küstennutzung durch den Tourismus sind die wirklichen Gefahren für die Korallenriffe», sagt er. Im Vergleich dazu sei das aufgelaufene chinesische Frachtschiff ein geringes Problem, das nur sehr lokal eine Bedrohung darstelle.
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