Aussteiger warnen vor Freikirchen

Zwei Frauen erzählen von ihrer Kindheit in einer streng religiösen Familie. Sie sagen, das evangelikale Milieu sei gefährlich

SaW Redaktion
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Von Sarah Serafini
Mit vier Brüdern wuchs Julia* in einer Familie auf, die bis heute stark in einer Pfingstgemeinde in St. Gallen engagiert ist. Alles in ihrem Alltag habe sich um die Kirche gedreht. Das Leben ausserhalb der Gemeinde lernte sie erst kennen, als sie mit 13 Jahren ins Gymnasium kam. Da begann sie, stark gegen die Eltern und die Religion zu rebellieren. Mit 17 zog sie von zu Hause aus.
Auch bei Hanna war der Austritt aus der Freikirche einschneidend. Sie ist 25 Jahre alt und heute ein komplett anderer Mensch als noch vor ein paar Jahren. Sie hat sich losgesagt von allem, was in ihrer Kindheit und in ihren Jugendjahren so wichtig war: das tägliche Beten, die Kirchgänge, fromm sein. Aufgewachsen in einer streng religiösen Familie, war Hanna bis zu ihrem 18. Lebensjahr Mitglied einer Chrischona-Freikirche in Zürich. Danach brach sie mit allem.
Während andere religiöse Gemeinden an Mitgliedern verlieren, werden Freikirchen immer attraktiver. Vor allem die charismatischen unter ihnen, zu denen auch Julias ehemalige Pfingstgemeinde gehört, gewinnen an Zuwachs. Zu diesem Schluss kommt die Studie «Phänomen Freikirchen» von Jörg Stolz und Olivier Favre, die das freikirchliche Milieu erstmals umfassend analysierten («Schweiz am Sonntag» vom 9. 11. 2014).
In der Studie kommen auch Freikirchen-Aussteiger zu Wort. Ihr Fazit ist ähnlich wie das von Hanna und Julia. Die beiden Frauen finden: Freikirchliche Milieus mit ihren kleinen, kontrollierten Gemeinden und den starren Strukturen sind gefährlich. Ein Kind könne sich dort nicht frei entwickel, über alles müsse Rechenschaft abgelegt werden, das schlechte Gewissen sei ein ständiger Begleiter. Sehen sich Mitglieder von Freikirchen mit Widersprüchen konfrontiert, so rücken sie sich ihre Welt immer wieder neu zurecht, sagt Hanna. «Diese Ignoranz macht mich wütend.»
Die Geschichten von Hanna und Julia klingen ähnlich. Schauen sie zurück auf ihre Vergangenheit, flammt die Wut im Bauch jedes Mal heftig auf. Die Wut auf die Freikirche. Auf die eigene Familie. Darauf, dass ihnen keine Wahl gelassen wurde, ihnen ein Leben aufgezwungen wurde, das geprägt war von Schuldgefühlen. Denn die Angst, Gott nicht zu genügen, war allgegenwärtig.
Julia erinnert sich: «Als Kind hatte ich Panik, dass ich nach der Rückkehr von Jesus alleine zurückgelassen werde, weil ich nicht genug gebetet oder geglaubt habe.» Wenn sie sich allein in einem Zimmer mit verschlossener Türe aufhielt, wurde sie regelmässig von der Angst gepackt. Weil sich ihre Pfingstgemeinde im Nachbardorf befand, kannte sie im eigenen Dorf praktisch niemanden. Ausserhalb der Freikirche hatte sie keine Freunde. Sport oder anderen Aktivitäten durfte sie nicht nachgehen, wenn sie ausserhalb des Kirchenmilieus stattfanden. «Auch wenn viele den Sektenbegriff in Bezug auf die Freikirchen ablehnen; für mich stimmt er trotzdem», sagt Julia.
Nachdem sie mit 17 das Gymnasium schmiss, von zu Hause auszog und eine Lehre begann, merkte sie, dass sie anders war als die anderen. Es fiel ihr schwer, einen kurzen Schwatz zu halten oder sich in einer Gruppe anzupassen. «Ich realisierte, dass mich meine Eltern nie in die reale Gesellschaft eingeführt haben. Bei uns zu Hause gab es ja immer nur dieses eine Thema.»
Heute ist Julia 33 Jahre alt und arbeitet auf einer Sozialbehörde in einer Führungsposition. Teamfähig sei sie noch immer nicht. «Nach meinem Austritt aus der Freikirche bin ich wie ein Unkraut in alle Richtungen gewachsen und jetzt so verkrüppelt, dass man mich nicht mehr zurechtschneiden kann.»
Auch Hannas Leben drehte sich nur um die Kirche. Jungschar, Jugendclub, Bibelgruppe, christlicher Unihockeyclub und am Sonntag Gottesdienst. Die besten Freunde waren ebenfalls in der Chrischona-Gemeinde. In der Lehre lernte sie neue Leute kennen, bemerkte, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlte, wusste aber, dass sie dies nicht durfte. Dann kam der Irakkrieg, der sie stark politisierte. Hanna lebte in zwei Welten, die sich nicht vereinen liessen. Dieser Druck entlud sich in Migräneanfällen und mit 16 in einer schweren Depression.
Schlimm sei gewesen, plötzlich allein dazustehen, sagt Hanna. Sie habe einzig eine Freundin gehabt, als sie mit 18 aus der Chrischona-Freikirche ausgetreten sei. «Meine damalige beste Freundin sagte mir, sie wolle nichts mehr mit mir zu tun haben, wenn ich nicht mehr an Gott glaube.» Bis heute hadert sie mit ihrer Vergangenheit. Lange habe sie sich dafür geschämt, konnte nicht mitreden, wenn andere aus der Kindheit erzählten. Sollte sie sagen, dass sie christliche Rockmusik mochte? Oder als Teenager in Ungarn auf Missionsreise war?
Freikirchen betonen immer wieder, dass Mitglieder jederzeit problemlos austreten können. Auch Hanna und Julia stellten fest, dass man sie ziehen liess, als sie sich entschieden, zu gehen. Julia erhielt damals noch einen langen Brief von ihrem Pfarrer. Hanna weiss, dass ihre Gemeinde für ihre Rückkehr gebetet habe.
Beide Frauen haben sich heute von jeglichen Religionen abgewandt. Zum Elternhaus hat Julia heute praktisch keinen Kontakt mehr. Hanna hat inzwischen ein gutes Verhältnis zu Mutter und Vater. Die einzige Regel ist: Wenn sie sich sehen, wird nicht über die Religion gesprochen.
* Namen von der Redaktion geändert
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