«Auch mein Vater war Geissenhirt»

Der Kinderbuchklassiker von Johanna Spyri ist schon dutzendfach verfilmt worden. Aber Alain Gsponer findet, jede Generation brauche ihr Heidi. Seines ist stark.

Sabine Altorfer
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«Heidi» ist hervorragend besetzt. Anuk Steffen ist ein wirbliges Heidi, Bruno Ganz ein knorriger Alp-Öhi und Quirin Agrippi ein bodenständiger Peter. Foto: Disney

«Heidi» ist hervorragend besetzt. Anuk Steffen ist ein wirbliges Heidi, Bruno Ganz ein knorriger Alp-Öhi und Quirin Agrippi ein bodenständiger Peter. Foto: Disney

Schweiz am Wochenende

Herr Gsponer, ich gratuliere zu Ihrem Film. War es Ihre Absicht, Ihr Publikum damit zu Tränen zu rühren?
Alain Gsponer: Ich glaube, bei «Heidi» muss das Publikum einfach weinen, sonst stimmt die filmische Umsetzung nicht. Die Tränen sind aber vor allem der Kraft von Johanna Spyris Text geschuldet.
Mögen Sie es, wenn das Publikum emotional auf Ihre Filme reagiert?
Sehr, weil ich selbst ein sehr empathischer Mensch bin. Ich selber heule oft im Kino. Meine Frau macht sich dann lustig über mich. Aber das Miterleben, das Mitfiebern bei einem Film ist mir enorm wichtig und mit ein Grund, warum ich überhaupt Filme mache.
Warum braucht es ausgerechnet jetzt eine Neuverfilmung von «Heidi»?
Ich glaube, jede Generation braucht einen neuen, einen eigenen Heidi-Film. Die wunderschönen Verfilmungen der 50er-Jahre kann ich heute mit einem achtjährigen Mädchen nicht mehr anschauen, weil sie aus einer völlig anderen, einer fremden Zeit stammen.
Was ist für Sie denn der Kernpunkt eines «Heidi» für heute, für 2015?
Das Heidi ist auf der Suche nach dem richtigen Platz. Dem Ort, wo sie hingehört und wo sie sich wohlfühlt. Wie wir. Wir haben hier und heute keine existenziellen Bedrohungen, und trotzdem haben die Menschen die Sehnsucht nach Vertrauen, nach der Umgebung, wo sie glücklich sind. Das müssen aber nicht die Berge sein.
Bei Schlüsselstellen in Ihrem Film haben Sie die Handlung zum Teil verändert, um eine Botschaft zu vermitteln. Beispielsweise als der Geissenpeter Heidi sagt, ihr Grossvater habe jemanden erschlagen. Worauf der Grossvater dem zweifelnden Kind rät: «Glaube nicht alles, was die Leute sagen.» Ist das eine Ihrer Botschaften ans Publikum?
Ja. Glaube nicht alles, und vertraue dir selbst. Das ist doch ein Problem, dass wir uns selbst nicht vertrauen und zu wenig auf uns selbst hören – weil wir zu abgelenkt sind von den vielen Reizen.
Eine wichtige Botschafterin ist die Frankfurter Grossmama, die das Heidi ermuntert: «Wenn du etwas unbedingt willst, dann mache es.» Auch da haben Sie eine gesellschaftliche Handlungsanweisung versteckt.
Diese Szene hat mehrere Bedeutungen: Es ist zum einen eine Ode an Johanna Spyri, die es in jener Zeit gewagt hat, ein Buch zu schreiben aus der Perspektive eines Kindes, eines Mädchens. Und es ist eine Botschaft an die Kinder von heute. Wir haben viel mehr Möglichkeiten als damals, aber gleichzeitig gibt es so viele Vorbilder, dass es schwierig ist, die richtigen für sich selbst zu finden.
Heidi ist auch eine Aussenseiterin: Wenn sie als Berufswunsch Geschichten schreiben angibt, lachen sie die anderen Kinder aus.
Heute würde sie wohl ein Cybermobbing erleben. Aber ich glaube, ein Charakter wie Heidi würde auch einen Shitstorm überstehen.
Ist Ihr Film auch ein Aufruf für Toleranz? Die Grossmama, die sich über gesellschaftliche Regeln hinwegsetzt, zeichnen Sie als Lichtgestalt.
Nicht nur die Grossmama. Die toleranteste Figur ist Heidi. Sie nimmt jeden so, wie er ist. Die Grossmama schafft das dank ihrer Lebenserfahrung, Heidi dank ihrer Naivität. Aber gerade durch ihre Offenheit erreichen die beiden so viel.
Wenn Ihnen der Bezug zur heutigen Generation so wichtig ist, warum haben Sie den Film trotzdem so getreulich historisch gestaltet?
Die Bezüge zu heute, die Aussagen, die Sie erwähnt haben, haben wir bewusst gesetzt. Aber der Film will nicht didaktisch sein. Er will erzählen, und dabei haben wir dem Roman von Johanna Spyri vertraut.
Filmen ist Teamwork. Neben Ihnen waren Drehbuchautorin Petra Volpe und Produzent Reto Schärli inhaltlich beteiligt. Mussten Sie darüber streiten: Wer ist Heidi? Wie ist Heidi?
Erstaunlicherweise nicht. Reto wollte, dass ich den Film inszeniere, weil ich das Leben auf dem Maiensäss kannte. Er hat fast mehr an meine Eignung geglaubt als ich selbst. (lacht) Da könnte ich wohl von Heidi lernen. Petras Vorstellung hat mich sehr inspiriert, und natürlich hatte auch Mike Schaerer beim Schnitt nochmals Einfluss. Aber es gab die notwendige Synthese.
Auch beim «richtigen» Schweizbild?
Das haben wir intensiv diskutiert. Wie hart war das Leben damals? Wie schwer wollen wir es darstellen? Weil der Film ein Happy End hat, weil Heidi als Geschichte umarmend ist, konnten wir uns für eine recht harte Darstellung entscheiden. Mir war das sehr wichtig. Gerade weil ich von meinen Verwandten wusste, wie arm sie gelebt haben.
Was reizt Sie generell an historischen Vorlagen? Mit «Akte Grüninger» haben Sie schon mal ein Stück Schweizer Geschichte verfilmt.
Bei Heidi ist es wie ein Stück Familiengeschichte: Mein Vater war selbst Geissenhirt im Wallis.
Was ist schwieriger zu verfilmen: Johann Spyri oder Martin Suter?
(zögert) Ich glaube, Martin Suter. Bei Martin Suter ist die Struktur der Bücher bereits filmisch gedacht, aber in der Adaption 1:1 funktionieren sie trotzdem nicht. Man muss etwas dazuerfinden, das ist sehr schwierig. Bei Johanna Spyri dagegen kann man die Struktur selbst legen, den Inhalt verdichten. Das ist einfacher.
«Heidi» hatte mit 8 Millionen Franken ein viel höheres Budget als «Grüninger». Haben Sie das gespürt?
Auf jeden Fall. Man kann der Atmosphäre, der Ausstattung mehr Gewicht geben. «Grüninger» haben wir mit lediglich vier Autos aus der Zeit erzählt, und wir hatten nur 23 Drehtage. Bei «Heidi» hatten wir mehr Zeit, konnten genauer arbeiten – und uns Landschaftsaufnahmen leisten, bei denen man nachträglich Strommasten wegretuschieren musste.
Swissness im Kino funktioniert. Warum? Weil Filme wie «SchellenUrsli» oder «Heidi» die schweizerische Selbstbezogenheit und RückwärtsGewandtheit bedienen?
Ich glaube, es ist weniger ein politisches und mehr ein filmisches Phänomen: Im deutschsprachigen Raum verkauften sich in den letzten Jahren vor allem Marken. Neben Komödien funktionieren fast nur noch Literaturverfilmungen oder historische Stoffe. Das heisst, alle Produzenten sind auf der Suche nach Marken, die man neu adaptieren kann. Vielleicht kommt bald eine grosse Wilhelm-Tell-Verfilmung (lacht). Es ist leider so.
Klammern Sie die politische Dimension nun aus, weil Sie keine sehen oder weil Sie sich lieber nicht auf das Thema einlassen?
Ich glaube, die Filme entstehen nicht aus einer politischen Situation, aber sie haben eine politische Dimension. Beispielsweise zeigen sie uns: Vor hundert Jahren war das Leben in der Schweiz noch ganz anders. Es gab Armut, Hunger. Die Leute mussten auswandern, um Arbeit zu haben. Heute sind wir ein Einwanderungsland – das können wir doch auch bewältigen.
Welche Marktchancen geben Sie «Heidi» auf dem internationalen Markt?
Eine sehr grosse. «Heidi» ist die einzige grosse Schweizer Marke, die weltweit funktionieren kann. Das war Anreiz und Druck für mich.
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