In ihrer Arbeit als Anwältin ist sie mehreren Müttern begegnet, die ihre Kinder töteten. Im Fall Flaach erkennt die Psychologin und Juristin Annegret Wiese aus München Parallelen zu ähnlichen Fällen.
Annegret Wiese: Ich habe gesehen, dass das nicht Bestien oder Monster sind, die so etwas tun. Viel eher sind es Mütter, die ihre Kinder ganz besonders lieben und sich ganz besonders um sie sorgen. Sie sind ausserordentlich konzentriert darauf, dass es ihren Kindern gut geht. Für Aussenstehende ist das gar nicht fassbar. Allgemein meint man eher, das seien wohl egoistische, kalte Personen, die sich ihrer Kinder entledigen wollen.
Die Fürsorglichkeit hat ja zwei Facetten. Die eine ist die: Was benötigt das Kind tatsächlich an Fürsorge? Die andere ist: Was meint die Mutter, was das Kind an Fürsorge benötigt? Letzteres stellt sich oft als Überbehütung dar und kann so weit gehen, dass Mütter die Idee haben, ihre Kinder vor allem Übel bewahren zu müssen.
Diese Mütter denken, die Kinder sollen nicht den Widrigkeiten der Welt ausgesetzt werden, sondern in einem Schonraum leben. Das Problem ist, dass die Mütter selbst etwas sehr Gebrochenes aus ihrer Biografie mitbringen, was oft mit ihrer eigenen Mutter zusammenhängt. Sie durften nicht sie selber sein. Später tragen sie das bei den Kindern aus: Das Resultat sind Überfürsorglichkeit und aus dem Moment heraus kommende Aggression, die sogar in einer Kindstötung enden kann.
Dazu kann es in einer Krisensituation kommen. Die Krise kann zum Beispiel sein, dass etwas in der Partnerschaft nicht funktioniert oder dass es ganz massive existenzielle Probleme gibt. Im Fall Flaach sind offenbar mehrere Dinge zusammengekommen. Als die Mutter verhaftet wurde, hat sie erlebt, dass man sie den Kindern entzieht. Dann, als sie aus der U-Haft entlassen wurde, dass man ihr die Kinder entzieht. Das in der Summe konnte sie nicht verarbeiten. Die Tat hat sie möglicherweise vor dem Hintergrund begangen, dass sie selber keine Perspektive hatte. Sie dachte wohl, das Leben im Heim könne sie den Kindern nicht zumuten, da sie keinerlei Einfluss auf die Kinder und keinerlei Kontrollmöglichkeit hatte.
Bei den Müttern handelt es sich meist um Personen, die ein gebrochenes Selbst haben und sich selber als sehr unvollständig erleben. Bestimmte positive Erfahrungen konnten sie in ihrer Kindheit nicht machen. Wenn eigene Kinder auf die Welt kommen, ist der Gedanke da, das zu kompensieren. Oft wird die Schwangerschaft besonders herbeigesehnt. Das Muttersein gibt diesen Frauen die Möglichkeit, etwas zu erleben, auch an Zuwendung, was für sie erstmals erfahrbar wird im Leben. Das kann dazu führen, dass sie ihre Kinder überbehüten, sie nicht der Welt aussetzen wollen.
Sie werfen sich vor, dass sie das Schlimmste gemacht haben, was sie nur hätten machen können. Das Bedauern über das, was sie getan haben, ist unaussprechlich. Sie haben sich selber das Liebste genommen. Die Tatsache, dass sie dann überleben, ist kaum auszuhalten. Die Suizidgefahr bei diesen Frauen ist sehr, sehr hoch. Ihre eigenen Suizidversuche scheiterten meist, weil ihnen schlicht die Kraft dazu fehlte. Von aussen wirkt so ein Versuch nicht ernsthaft. Allerdings haben diese Mütter bereits einen wichtigen Teil ihrer selbst getötet, nämlich die Kinder. Somit haben sie quasi einen Suizid begangen.
Ein wesentlicher Unterschied ist: Die Mütter, die ihre Kinder töten, befinden sich in einem ganz engen Verhältnis zu ihren Kindern. Die Väter erleben sich weniger als Einheit mit ihren Kindern, sondern im Regelfall mehr als Dreieck: Sie wollen die Frau treffen. Sie reagieren zum Beispiel heftig auf eine Trennung seitens der Frau. Mit nichts kann man die Mütter mehr treffen, als wenn man die Kinder tötet.
Die Frau hat einfach das Lebensumfeld ohne Kinder nicht ertragen und offenbar keine Perspektive bekommen. Das ist sicherlich etwas ganz Schwieriges, wenn man Müttern in dieser Situation nicht schnell eine Perspektive gibt. Ich masse mir keine Kritik an der Behörde an, weil ich zu wenig Hintergrundwissen habe. Aber vom Psychologischen her ist es so: Wenn eine Mutter, die ihre Kinder täglich betreut hat, in eine solche Situation kommt, dass diese normale, selbstverständliche Begegnung im Alltag entfällt, entsteht für sie ein riesiges Loch. Und wenn sie dann auch noch befürchtet, dass es den Kindern im Heim nicht gut geht und diese sich vielleicht nachts in den Schlaf weinen, sieht sie also weder für sich noch für die Kinder eine wirkliche Perspektive. Insofern ist die Mutter verzweifelt. Das habe ich immer wieder bei Müttern gesehen.
Das kann ich von aussen nicht beurteilen. Wenn Eltern ins Gefängnis kommen, ist es naheliegend, dass die Behörde etwas unternimmt. Vielleicht gab es keine Alternative zum Heim. Was aber allemal stattfinden muss, ist eine Kommunikation darüber, wie «vorläufig» die Situation ist. Aber was heisst das? Ein paar Tage, Wochen, Monate oder ein Jahr? Wovon hängt es ab? Was kann ich selber dazu beitragen, dass die Vorläufigkeit verkürzt wird? Und so weiter.
Wenn die Kinder wirklich gefährdet sind, muss man sie schützen. Wenn es ihnen zu Hause nicht gut geht, kann es sein, dass es ihnen eventuell in einem Heim besser geht. Die Behörden stehen wohl sowieso in der Kritik. Im Fall Flaach hätte die Mutter sicher eine Perspektive gebraucht. Vielleicht hat man sie ihr formal sogar gegeben, aber sie hat sie von ihrer psychischen Situation her wohl irgendwie nicht verstanden.
Ob man es ganz verhindern kann, ist schwierig zu sagen. Mütter, die ihre Kinder töten, sind in entscheidenden Situationen oft nicht in der Lage, um Hilfe zu bitten. Sie glauben, als Mutter nur dann zu genügen, wenn sie es «alleine hinkriegen». Unter Umständen bewegen sie sich in Überforderungssituationen, denen sie nicht gewachsen sind. Um daran etwas zu ändern, sollte man Hilfe als grössere Selbstverständlichkeit etablieren. Zudem müssen Mütter, denen die Kinder entzogen werden, eine realistische Perspektive bekommen. Auch sollten sie für einen gewissen Zeitraum eine psychische Betreuung erhalten. Denn für sie bedeutet so eine Situation ausserordentlichen psychischen, existenziellen Stress.