Der Nord-Ostsee-Kanal in Deutschland ist die meistbefahrene künstliche Seeschifffahrtsstrasse der Welt. Entlang dem Kanal kann man per Velo mit den riesigen Container- und Kreuzfahrtschiffen um die Wette radeln. Ein super Gefühl.
Von Samuel Thomi
Sie kennen bereits Berlin, Hamburg und München? Dann ist es höchste Zeit, Deutschland von einer neuen Seite zu erkunden. Aber Achtung: Einmal mit dem Rad aus der Stadt gefahren, ist man im grossen Kanton schnell allein. Doch der Reihe nach.
Das Reiseziel war rasch klar: Die erste Velotour mit Kleinkind sollte in Hamburg enden, weil es uns immer wieder dorthin zieht. Als Vorschläge für die Tage davor sprudelte das Internet nur so vor Ideen. Immer wieder darunter: die Nok-Route.
In Geografie müssen wir alle einen Fensterplatz gehabt haben. Vom Nord-Ostsee-Kanal – dem Nok eben – hat jedenfalls noch keiner gehört, den ich darauf ansprach. Doch je mehr ich darüber las, desto klarer war mir: Da muss ich hin! Ich will auch mal mit riesigen Container- und Kreuzfahrtschiffen um die Wette radeln. Während wir ständig vom neuen Panama- und vom neuen Suez-Kanal lesen, liegt die meist befahrene künstliche Seeschifffahrtsstrasse der Welt quasi vor der Haustür.
Seit 120 Jahren verbindet der Nok die Nordsee ab der Mündung der Elbe mit der Ostsee (respektive der Stadt Kiel). Englisch wird der Nord-Ostsee-Kanal denn auch «kiel canal» genannt. Die heutige, rund 100 Kilometer lange Wasserstrasse, die Schiffen eine Strecke von rund 450 Kilometern um Dänemark herum erspart, geht zurück auf Kaiser Wilhelm II. Auslöser des Baus war der technische Fortschritt: Der Eiderkanal, der schon 100 Jahre zuvor gebaut worden war und dem gleichnamigen Fluss folgt, taugte nicht mehr für maschinenbetriebene Schiffe. Weil die Schifffahrt seit der Nok-Eröffnung riesige Entwicklungen durchlaufen hat, läuft derzeit die letzte Etappe zur Verbreiterung und Vertiefung.
Den Ostwind im Nacken
Um in Hamburg einzufahren, radeln wir in Kiel los. Und das, obwohl der Wind in Schleswig-Holstein meist aus Südwesten bläst. Dies realisieren wir zu spät, wird doch im Bikeline-Radtourenbuch nicht begründet, weshalb die Tour von Brunsbüttel nach Kiel beschrieben ist. Doch wir haben Glück: Den seltenen Ostwind im Nacken erreichen wir nach ein paar Aufwärm-Kilometern mit dem Kinderanhänger locker bereits den höchsten Punkt der Tour: Die 42 Meter hohe Holtenauer Hochbrücke über der Schleuse in die Ostsee – ein gewaltiger Ausblick auf die riesigen Schiffe, die unten kreuzen. Doch die Tochter verschläft alles. Wie sonst noch einiges auf den kommenden insgesamt gut 200 Kilometern.
Erstes Etappenziel: Schinkel. 1005 Einwohnerinnen und Einwohner. Ein Getränkemarkt mit angeschlossener Gaststube, eine Bio-Bäckerei, die gerade geschlossen ist, und tags darauf ein Bauernmarkt. Sonst nix. Aber ganz wichtig: Es gibt ein Bed & Breakfast, eine der wenigen und oft ausgebuchten Schlafstätten entlang dem Nok. «Wir haben immer offen, aber die Leute kommen vor allem im Sommer», sagt Karin Glusk. Sie führt die familiäre Pension seit zehn Jahren; genau so lang, wie die Radroute auf beiden Seiten des Kanals bestens ausgeschildert ist.
Tags darauf macht der Radweg ausnahmsweise einen kurzen Umweg über Land. Dennoch bleibt der Nord-Ostsee-Kanal präsent: Einmal fährt nebenan das weisse Oberdeck eines Kreuzfahrtschiffs geräuschlos durch grüne Matten und gelbe Rapsfelder, dann lugen Kranmasten und die Kommandobrücke eines Containerschiffs aus dem Wald. Zurück am Kanal fahren wir meist am Nordufer; dort scheint die Sonne häufiger.
Für den einzigen Fischer am Nok muss man jedoch die Seite wechseln. Hans Brauer fängt immer weniger Fische im Kanal. Zusammen mit seiner Frau Gerda verkauft er den Fang in seinem Restaurant bei Rade gleich direkt. Auf der Terrasse blickt man auf die Schiffsentmagnetisierungsanlage der deutschen Marine.
Eine Fähre, die schwebt
Dann taucht auch schon die einzige Stadt am Nok auf: Rendsburg. In der pittoresken Altstadt gibt es nicht nur urbanes Leben, sondern auch Windeln, Sonnenhüte und Kindersnacks. Touristen wollen vor allem zwei Dinge sehen: einerseits die Schwebefähre. Ihre Fahrkabine hängt unter einer Eisenbahnbrücke. Nebst einer zweiten in Deutschland sollen von diesem sonderbaren Verkehrsmittel weltweit noch acht in Betrieb sein. Seit dem Zusammenstoss mit einem Frachter im Januar wird die Kabine in Rendsburg aber auf einem nahen Platz saniert. So müssen wir den Kanal in einem Tunnel queren. Am Nok gibt es nebst dem Tunnel zur Querung des Kanals 20 Brücken und 9 Fähren. Diese sind gemäss der einstigen Anordnung von Wilhelm II. für immer gratis.
Neben der Anlegestelle der Schwebefähre liegt gleich der zweite Grund für einen Besuch Rendsburgs: die Schiffsbegrüssungsanlage. Wer mehr wissen will über den Kanalverkehr, erhält dort von pensionierten Kapitänen eine Antwort. Keine Zeit für Fragen haben diese jedoch, wenn gerade ein Schiff vorbei- fährt oder sogar ein grosser Kreuzer. Dann pilgern auch die Anwohner zur Schiffsbegrüssungsanlage. «Traumschiffe» werden in der Lokalzeitung stets auf der Titelseite angekündigt. Jetzt wartet man gerade auf die «Seaburn Quest». Dass sie ein paar Stunden verspätet ist, scheint an diesem Mittag niemanden gross zu kümmern. Das Signalhorn ertönt und die Nationalhymne. Die Schiffsbegrüssungsanlage gibt Länge und Höhe des Schiffs bekannt, inklusive Bruttoregistertonnen und Passagierzahl. Worauf wieder Ruhe einkehrt am Nok.
Wildgänse begleiten uns
Weiter geht es, mal direkt am Kanal, dann mit einer Schleife über das entvölkerte Land an den Fluss Eider und zurück zum Nok, wo wir in der Fahrradherberge in Bornholt absteigen. Tags darauf fahren wir zielstrebig weiter, überholen ein Megaschiff nach dem anderen und fahren am tiefsten Punkt Deutschlands (eine Wiese, 3,54 Meter unter dem Meer gelegen) vorbei der Nordsee entgegen. Stete Begleitung: unzählige Wildgänse, Schwäne und Enten. Und der aussergewöhnliche Rückenwind.
Das Ende der Radtour zeichnet sich lang im Voraus ab: In der Ferne sind die Kamine der chemischen Industrie und des AKW Brunsbüttel zu sehen. Und dann dreht der Wind doch noch und weht uns jetzt aus Südwesten direkt ins Gesicht. Für uns ist das wieder ein Glück: So trägt uns der Wind nach der Spitzkehre in Brunsbüttel schliesslich auch noch auf dem Elbe-Radweg bis nach Hamburg.
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