Als junge Erwachsene kommt Alice ins Wunderland zurück. Inspiriert von Lewis Carrolls Klassiker, mischt Tim Burton die Karten mit der für ihn typischen morbiden Üppigkeit neu.
VON EVELYNE BAUMBERGER
Wild wuchernder Dschungel mit üppigen bunten Blüten, gefährliche Urzeitmonster und eine fremde, fantastische Welt – kommt Ihnen das bekannt vor? Nachdem James Cameron mit «Avatar» neue Kino-Massstäbe gesetzt hat, doppelt Tim Burton («Charlie and the Chocolate Factory») nun mit «Alice in Wonderland» nach und verführt den Zuschauer mit einer gegen die Eleganz und den Pathos von «Avatar» fast schon frech wirkenden Nonchalance.
Alice (Mia Wasikowska) ist mittlerweile 19 Jahre alt. Nach einem Heiratsantrag von einem Mann, den sie verachtet, läuft sie davon, einem weissen Kaninchen mit Weste und Taschenuhr hinterher. Sie fällt ins gleiche Erdloch wie schon als Kind, nur dass sie das vergessen hat: Alice erinnert sich weder an die Wasserpfeife rauchende Raupe oder die beiden dicken Brüder noch an den verrückten Hutmacher (gewohnt brillant: Johnny Depp) oder die böse Herzkönigin (Burtons Lebensgefährtin Helena Bonham Carter). Und so lernt sie alle noch mal kennen, doch über den vielfältigen Begegnungen schwebt nicht nur die Grinsekatze, sondern auch eine düstere Stimmung.
Wir haben da nämlich alle etwas falsch verstanden: Wunderland heisst in Wahrheit «Unterland». Die Herzkönigin – «Ab mit dem Kopf!» – unterdrückt mit ihrem Herzbuben und einer Armee von Spielkarten das Land, ihre kleine Schwester, die weisse Prinzessin (Anne Hathaway), hat sich darob zurückgezogen und lebt in einem eigenen Schloss, in dem alles hell und leicht wie aus Watte ist. Alice wurde vom Orakel ausgewählt, alles wieder ins Lot zu bringen: Der Messias dieser Fantasiewelt.
Storymässig haben die Autoren kräftig nicht nur bei «Harry Potter» abgeschaut. «Alice in Wonderland» ist zwar witzig und ironisch, aber der Plot ist doch eher Nebensache – auch, weil das Ende ja vom Orakel gleich zu Anfang vorhergesagt wird. Visuell ist Tim Burtons Wunderland jedoch ein rauschendes Fest: Verspielt, surrealistisch, bunt und detailverliebt gestaltet, üppig mit dem für Tim Burton typischen Hang zum Faulig-Morbiden. Die Special- und 3-D-Effekte sind grösstenteils unaufdringlich eingesetzt. Vielmehr setzt Burton auf das Design, auf hinreissende Kostüme, starke Figuren und fantasievolle Raumgestaltungen. Im Schloss der Herzkönigin etwa gibt es Kapuzineräffchen in Pagenuniform oder Schweine als mobile Polstersessel.
Alice wird von der Königin in ein umwerfendes Kleid aus Leopardenfell und Massen von rotem Tüll gekleidet, und das Make-up des lispelnden Hutmachers ist ebenso wahnsinnig wie er selbst. Morbide Einfälle wie die Brücke aus abgetrennten Köpfen, über die Alice klettern muss, um ins Schloss zu gelangen, fehlen ebenfalls nicht. Auch die Architektur des Schlosses würde man sich gerne länger anschauen – überhaupt möchte man im Film ständig den Pause-Knopf drücken, um die Eindrücke geniessen zu können.
«Alice in Wonderland» wurde von Anfang an als 3-D-Projekt angelegt. Die Szenen wurden jedoch in 2-D gedreht und danach mit den computergenerierten Teilen in 3-D übersetzt. Vielleicht deshalb ist «Alice» für die Augen um einiges weniger anstrengend als «Avatar».
Auf ihrer Reise zurück in ihre Kindheit und durch das Wunderland wird Alice immer selbstbewusster und findet zu ihrer eigenen Identität. Dabei verschiebt sich ständig die Grenze zwischen Traum und Realität, zwischen normal und verrückt. Eine Frage wird im Film zweimal ängstlich gestellt: «Bin ich etwa verrückt geworden?» Die Antwort: «Ich fürchte, ja – du bist absolut gaga und total durchgeknallt. Aber ich verrate dir ein Geheimnis: Die besten Leute sind das.» Auf Tim Burton trifft das zweifellos zu. Zum Glück!
Alice in Wonderland (USA 2010): 108 Min. Regie: Tim Burton. Mit: Johnny Depp, Mia Wasikowska, Helena Bonham Carter und anderen. Ab Donnerstag im Kino. HHHHI
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