Moto2-Fahrer Tom Lüthi ist auf der ganzen Welt unterwegs. Doch seine Wurzeln liegen in Linden. Zeit, dem Bauerndorf einen Besuch abzustatten
Kurve um Kurve über Hügel und Felder, vorbei an prachtvollen Bauernhäusern mit eindrücklichen Walmdächern, weidenden Kühen und ratternden Traktoren. Plötzlich weiss man, dass man angekommen ist. Dann nämlich, wenn das überdimensionale Transparent am Strassenrand den Blick unweigerlich auf sich zieht. Tom Lüthi strahlt allen Neuankömmlingen im Dorf entgegen, als wolle er sagen: «Willkommen in meinem Zuhause!»
In Linden, das auf dem Papier zum Berner Mittelland gehört – die Herzen der Bürger schlagen aber fürs Emmental –, ist Tom Lüthi aufgewachsen. Seine Eltern leben noch heute auf dem Hof am Barschwandhubel. «Tom war absolut kein Bauernsohn», sagt Mutter Silvia Lüthi, «die Landwirtschaft hat ihn nie gross interessiert. Ausser die Arbeiten mit Maschinen, zum Beispiel das Heuholen mit dem Ladewagen.»
Klein Tom wusste früh, wozu er bestimmt ist. Schon als 13-Jähriger ist er den aufheulenden Motoren, dem brennenden Teer und dem Benzingeruch verfallen. Er wurde Pocket-Bike-Schweizer-Meister. Lüthis ehemaliger Lehrer Heinz Zurbrügg, der noch heute im 1300-Seelen-Dorf unterrichtet, erinnert sich: «Tom war ein aufgestellter Junge, ein richtiger ‹Luusgiel› eben. Er hat aber nie mit seinem frühen Erfolg plagiert.» Zurbrügg verfolgt noch heute die Rennen seines ehemaligen Schützlings. Im Kalender vieler Dorfbewohner gehören die Renntage zu fix eingetragenen Terminen. Dann nämlich öffnet Simon Maurer, Wirt im Gasthof Kreuz, die Pforten zum Wäudli-Pub. «Normalerweise ist hier am Sonntag geschlossen. Doch für Toms Rennen öffnen wir auch dann – selbst wenn sie mitten in der Nacht stattfinden.»
Dürftige Lampen schenken dem Lokal im Keller ein wenig Licht. Barhocker reihen sich am grossen Tresen aneinander, an der Wand hängt eine Grossleinwand. «Hier trifft sich Jung und Alt. Meist kommen zwischen 70 und 90 Personen, um ein Rennen zu verfolgen», sagt Maurer.
Viele Stammgäste gehören dem Tom-Lüthi-Fanklub an. Präsidentin Heidi Tröhler, die etwas abseits vom Dorfkern einen Coiffeursalon führt, mag sich noch an die Anfänge erinnern. «Wir haben den Fanklub schon zwei oder drei Jahre vor dem grossen Erfolg gegründet.» Die wirblige Coiffeuse gerät ins Schwärmen: «Als Tom 2005 Weltmeister wurde, haben wir die Woche darauf eine Riesensause veranstaltet.» Sogar der ehemalige Bundespräsident Samuel Schmid sei gekommen. Auch eine Kundin, die soeben ihre Frisur bezahlt hat, erzählt vom Töff-Fieber, das in Linden vor über zehn Jahren ausgebrochen und seither nie abgeklungen ist: «Mein Mann schaut alle Rennen. Eine grossartige Sache ist das für unser Dorf!»
Die Sache könnte noch grossartiger werden. Dank seinem Sieg in Katar vor zwei Wochen startet Tom Lüthi heute als Leader am GP von Argentinien. Für seine Mutter sind die Rennen jeweils ein Kraftakt. «Das Zuschauen wird immer schlimmer. Man gewöhnt sich einfach nicht daran.»
Trotz Zittern und Herzklopfen lassen es sich die Lüthis nicht nehmen, ein paar Rennen pro Saison vor Ort zu verfolgen. «Das sind unsere Ferien», sagt Silvia Lüthi. In Europa seien sie schon auf fast allen Rennstrecken gewesen, «den Kontinent verlassen wir aber nicht.» Verständlich, denn das Ehepaar reist jeweils mit dem eigenen Motorrad an die Austragungsorte. Vater Hansueli übernimmt dafür den Lenker des roten Hondas. «Von ihm hat Tom das Töff-Gen, sie haben schon früher viele Rennen zusammen geschaut», sagt Silvia Lüthi und fügt eine kleine Anekdote an: «Mein Mann wird im Dorf von allen nur ‹Taveri› genannt.» Der Zürcher Luigi Taveri wurde in den Sechzigerjahren dreimal zum Motorrad-Weltmeister gekürt.