In den Trümmern von Belgrad wächst mit Novak Djokovic der beste Tennis-Spieler der Gegenwart auf. Eine Geschichte voller Hindernissen und Entbehrungen. Wie der 16-fache Grand-Slam-Sieger aus dem Schatten von Roger Federer und Rafael Nadal trat.
Ein athletischer Mann, der Oberkörper nackt, den Blick in die Ferne gerichtet, läuft der Abendsonne entgegen, durch ein Feld, mit der rechten Hand streift er das Korn. Es ist eine Szene aus dem Film Gladiator. Und es ist der Abend vor dem Wimbledon-Final. Der Mann, der die Szene nachstellt und mit der Welt teilt, heisst: Novak Djokovic. Es ist eine Botschaft– an seinen Gegner, Roger Federer, und an die Welt. Sie lautet: Ich bin bereit. Bereit für den Kampf. Bereit für das, was auf mich zukommt. Denn wer in Wimbledon auf Roger Federer trifft, ist in der Rolle des Spielverderbers. Djokovic aber überwindet alle Widrigkeiten. Er gewinnt ein Spiel, in dem er deutlich weniger Ballwechsel für sich entscheidet. Ein Spiel, in dem er zwei Matchbälle abwehren muss.
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— Novak Djokovic (@DjokerNole) 13. Juli 2019
Nach den US-Open-Halbfinals 2010 und 2011 ist es das dritte Mal, dass der Serbe gegen Federer ein Spiel gewinnt, in dem er zwei Matchbälle gegen sich hatte. In der Profi-Ära seit 1968 gab es das erst ein Mal in einem Grand-Slam-Final – 2004 in Roland Garros. Es ist kein Zufall, dass dieses Kunststück nun auch Novak Djokovic gelingt. Und es ist auch kein Zufall, dass ausgerechnet Roger Federer der Leidtragende ist. Djokovic stand immer im Schatten von Roger Federer und Rafael Nadal. Vielleicht tut er das noch immer. Doch die Zahlen lügen nicht. Djokovic hat 15 der letzten 35 Grand-Slam-Turniere gewonnen. Er hat das Männer-Tennis im letzten Jahrzehnt mit kurzen Unterbrüchen dominiert.
Wer verstehen will, wie aus Novak Djokovic der geworden ist, der er heute ist, der findet Antworten in seiner Biografie. Statt unbeschwert seinen zwölften Geburtstag zu feiern, sitzt er 1999 in einem Belgrader Keller, während die Sirenen vor einem neuen Luftangriff warnen. Anders als Roger Federer und Rafael Nadal wächst er nicht im privilegierten Westeuropa auf. Sein Weg in den Tennis-Olymp ist steinig. Und er prägt ihn wohl bis heute. Als sich die Lage in der Heimat beruhigt, bricht Djokovic nach München auf, um von dort aus die Tennis-Welt zu erobern. Seine Mutter Dijana weint oft am Telefon, «doch er zeigt keine speziellen Emotionen. Er weiss, was er will – der beste Spieler der Welt werden.» So erzählt es die Mutter. Vielleicht ist das auch Legendenbildung.
Doch es ist nicht die einzige Anekdote, die Djokovics Beharrlichkeit dokumentiert. Er trainiert öfter und härter als alle anderen. Mit sechs Jahren ist er besser als die meisten Zehnjährigen. Seine erste Trainerin, die 2013 verstorbene Jelena Gencic, sagte einst: «Dieses Kind ist etwas Spezielles.» Djokovic sei immer eine halbe Stunde zu früh zum Training erschienen, mit perfekt gepackter Tasche: Ersatzschläger, T-Shirt, Schweissband, Banane und Wasserflasche. Als sie ihn gefragt habe, ob die Mutter für ihn gepackt habe, verneinte er: «Ich schaute den Spielern im TV zu und machte es wie sie.» Wie Pete Sampras. Wie Boris Becker. Wie Andre Agassi. Wie all jene Spieler, die seine Vorbilder waren.
Keine Vorbilder waren für ihn Roger Federer und Rafael Nadal, in deren Schatten er lang stand. «Spiele gegen Nadal und Federer waren für mich immer die ultimative Herausforderung.» Früher habe er sich darüber geärgert, in der gleichen Ära wie die zwei vielleicht besten Spieler aller Zeiten zu spielen, sagt Djokovic. «Heute denke ich anders, ich bin wirklich glücklich darüber und dankbar dafür.» Die Spiele gegen Federer und Nadal hätten ihn zu jenem Spieler gemacht, der er heute sei. «Sie sind für mich eine Inspiration. Ich habe riesigen Respekt vor dem, was sie erreicht haben.» Er glaube, sie alle hätten sich gegenseitig immer wieder ans Limit gebracht, wenn sie gegeneinander spielten.
Seinem Spiel fehlt die sichtbare Eleganz und Poesie, dafür besticht Djokovic mit einer unerreichten Beharrlichkeit, mit Ausdauer und klinischer Präzision. Tennis ist ein Spiel der Momente. Roger Federer dominiert zwar das Spiel, doch Djokovic den Moment – und so gewinnt er ein Spiel, in dem er weniger Punkt holt. An einem Tag, an dem sich die ganze Welt gegen ihn verschworen zu haben scheint. Novak Djokovic, 32, spielt heute Tennis, wie er als Kind aufgewachsen ist – er ist ein Kämpfer, ein Gladiator, im ständigen Krisen-Modus. Seine mentale Stärke ist unerreicht, gestählt durch seine Biografie.
.@Simona_Halep poses with @DjokerNole for the @Wimbledon Champions portrait 🏆 pic.twitter.com/j0sUG9apdJ
— WTA (@WTA) 15. Juli 2019
Weil Djokovic sich nie auf das Publikum verlassen konnte, ist er es gewohnt, nur auf sich zu vertrauen. «Du musst immer daran denken, dass du besser bist. Dass du der Beste bist.» Wie er das schon als 13-Jähriger getan hat, als er seiner ersten Trainerin, Jelena Gencic, sagte, er sehe sich als künftige Nummer 1 und sich als Wimbledon-Sieger zeichnete. Djokovic sagt, er wolle so viele Grand-Slam-Titel wie möglich holen, «und ich möchte den Rekord für die meisten Wochen an der Spitze der Weltrangliste.» Derzeit ist es schwer vorstellbar, dass Gladiator Djokovic dieses Ziel nicht erreichen sollte. Nicht nach all den Widerständen, die er überwunden hat. Auf dem Platz – und im Leben.