Mit einem Jahr Verspätung finden in Tokio die Olympischen Sommerspiele statt. Sie sollten in Japan für Aufbruchstimmung sorgen, doch die Bevölkerung hält wenig vom Grossanlass.
Die Wettkämpfe laufen bereits, doch offiziell beginnen die Olympischen Sommerspiele in Tokio am Freitag mit der Eröffnungsfeier. Es wird ein trister Anlass, denn auf der Tribüne des Olympiastadions werden nur VIPs sitzen, darunter Bundespräsident Guy Parmelin. «Tokio 2020», wie der offizielle Name immer noch lautet, findet als Geisterspiele statt.
Beobachter sind irritiert, denn andere Sportveranstaltungen werden in Japan mit Publikum durchgeführt. Doch die Angst ist gross, dass das Coronavirus verbreitet wird. Japan hat die Pandemie wie andere fernöstliche Länder besser bewältigt als Europa oder die USA, aber nun ist die Delta-Variante auch hier auf dem Vormarsch.
Ministerpräsident Yoshihide Suga verhängte zum vierten Mal den Notstand über Tokio, auch weil die Impfkampagne nur schleppend vorankommt. Deshalb wurden erst die Fans aus dem Ausland und dann die einheimischen Zuschauer von den Spielen «ausgesperrt». Für Athleten und Betreuer ist dies nicht möglich. Prompt wurden erste Infektionen gemeldet.
OK-Präsident Toshiro Muto wollte noch am Dienstag eine Absage der Spiele in letzter Minute nicht ausschliessen. In einer Umfrage der Zeitung «Asahi Shimbun» bezweifelten 68 Prozent, dass die Olympischen Spiele «sicher» sein werden. In der Hauptstadt sprachen sich nur 30 Prozent der Befragten für ihre Durchführung aus, 58 Prozent lehnten sie ab.
Eine Erhebung der gleichen Zeitung vom Juni ergab ein ähnliches, etwas differenzierteres Bild. Je rund ein Drittel war für oder gegen die Spiele, ein weiteres Drittel für eine erneute Verschiebung. Schon mehrfach fanden Olympische Spiele unter skandalträchtigen Umständen statt, aber so wenig Vorfreude in der Bevölkerung gab es wohl noch nie.
Berichte von Korrespondenten bestätigen dieses Bild. Von vorolympischer Begeisterung ist in Tokio wenig zu spüren. Zu einer veritablen Hassfigur in Japan wurde Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Der Deutsche wird als arroganter Westler wahrgenommen, der dem Land seinen Willen aufzwingen will.
Hinzu kommt, dass Bach kaum einen Fettnapf auslässt. An einer Medienkonferenz betonte er, sein Ziel seien sichere Spiele «für das chinesische Volk». Zwar korrigierte er sich sofort, doch der Schaden war angerichtet. Zuletzt äusserte der «Herr der Ringe» den Wunsch, kurzfristig Zuschauer zuzulassen, falls die Ansteckungen zurückgehen sollten.
In gewisser Weise ist Thomas Bach auch ein Getriebener, denn es geht nicht nur um das Prestige, sondern auch um sehr viel Geld aus Fernsehrechten und Sponsoring. Olympia ist eigentlich «too big to fail». Und der olympische Zyklus erlaubt keine endlosen Verschiebungen. Schon im nächsten Februar sollen die Winterspiele in Peking stattfinden.
Also gilt erneut die Devise «The Games must go on!», die Avery Brundage, einer von Bachs Vorgängern, nach dem Terroranschlag 1972 in München, bei dem elf Mitglieder der israelischen Olympia-Delegation getötet wurden, ausgegeben hatte. Die Befindlichkeit der lokalen Bevölkerung spielt in diesem Kalkül eine zweitrangige Rolle.
Dabei sollte Tokio 2020 in Japan für Aufbruchstimmung sorgen, wie dies bei den ersten Sommerspielen 1964 der Fall war. Symbol für das Wirtschaftswunder war damals der Shinkansen. Während andere Länder noch mit der Elektrifizierung der Eisenbahn beschäftigt waren, raste in Japan ein Zug mit mehr als 200 km/h durchs Land.
Der japanische Aufstieg schien unaufhaltsam. Sony wurde nicht nur mit dem Walkman zu einer Art Synonym für Heimelektronik. 50 Prozent der weltweiten Halbleiterproduktion entfielen auf japanische Firmen. Im Westen und besonders in den USA erzeugte diese Dominanz Ängste. Manche dachten, Japan werde die Welt bald übernehmen.
Heute kann man darüber nur noch schmunzeln. Japan ist die drittgrösste Volkswirtschaft der Welt, wenn man die Europäische Union nicht als Einheit betrachtet. Doch das Land befindet sich in einer Art Dauerstagnation. In mancher Hinsicht hat Japan den Anschluss verloren. Corona etwa offenbarte ähnliche Defizite bei der Digitalisierung wie im Westen.
«Kompensiert» wird dies durch eine enorme Verschuldung von mehr als 250 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Für Ökonomen ist Japan zum Studienobjekt geworden, wie viele Schulden ein Land verträgt. Verschärft wird das Problem durch die Demografie. Nirgends vergreist die Bevölkerung so schnell wie im «Land der aufgehenden Sonne».
Das führt zur paradoxen Situation, dass die lebenslangen «Salaryman»-Bürojobs rar werden und junge Japaner mit befristeten Anstellungen und Burnouts konfrontiert sind, während in manchen Branchen ein Arbeitskräftemangel herrscht. Japan hat deshalb in den letzten Jahren immer mehr Einwanderung etwa aus Indonesien oder den Philippinen ermöglicht.
Proteste wie im Westen blieben laut «Foreign Policy» aus, was etwas heissen will. Denn das japanische Volk bildete sich lange sehr viel ein auf seine Homogenität und seine Kultur. Doch die Stagnation und Ereignisse wie die Dreifach-Katastrophe in Fukushima 2011 (Erdbeben, Tsunami, AKW-GAU) erschütterten das Selbstverständnis der Nation.
Um den Zuschlag bei der Olympia-Vergabe 2013 warb der damalige Premier Shinzo Abe nicht zuletzt mit dem erhofften Neustart nach Fukushima. Davon ist wenig geblieben, doch Japan verändert sich. Eine Symbolfigur ist Tennis-Star Naomi Osaka, die als Tochter eines Haitianers in den USA aufgewachsen ist und besser Englisch als Japanisch spricht.
Osaka ist auch bekannt für ihre unjapanische Direktheit, als «Black Lives Matter»-Aktivistin oder wenn sie wie zuletzt offen zu ihren Depressionen steht. Das French Open verliess sie Knall auf Fall, in Wimbledon fehlte sie, doch in Tokio tritt sie an. Für viele junge Japaner ist sie ein Idol, was sich auch in hoch dotierten Werbeverträgen ausdrückt.
Natürlich ist Naomi Osaka eine grosse Medaillenhoffnung. Überhaupt erwarten die Japaner einiges in Sachen Edelmetall. Viele wollen die Spiele laut «Asahi Shimbun» trotz allem am Fernsehen verfolgen, auch weil es sonst kaum etwas zu tun gibt. Vielleicht trägt sportlicher Erfolg dazu bei, dass doch noch so etwas wie Olympia-Begeisterung entsteht.