Kunstturnen
Wenn sich Kunstturner wie Fussballer fühlen

Die Neuhofhalle in Lenzburg ist zum bersten voll. Verhaltener Applaus für den Titelverteidiger aus Zürich, ohrenbetäubender Lärm bei der Vorstellung der Gastgeber aus dem Aargau.

Rainer Sommerhalder
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Christian Baumann bei seiner Barrenübung.

Christian Baumann bei seiner Barrenübung.

Markus Hunziker

Die Stimmung auf der Tribüne erinnert an ein Fussballspiel – mit Kuhglocken anstelle von Petarden. Ein einsames Plakat «Hopp Züri» signalisiert, wo die Fans des Meisters sitzen.

Das Aargauer Männerteam wird auch von den Kunsturnerinnen unterstützt, die heute Sonntag als Mitfavorit an die Geräte gehen. 13 von 18 möglichen Mannschaftstiteln gewannen die Athletinnen und Athleten des Regionalen Turnzentrums Niederlenz seit 2006. Der FC Aarau spielte mit einer solchen Leistung längst in der Champions und nicht in der Challenge League.

Zürich gegen Aargau ohne Spielverderber

Der spezielle Charakter der Schweizer Mannschafts-Meisterschaften ist einzigartig. «Es ist viel Prestige mit im Spiel» sagt Nicu Pascu, der Ex-Nationaltrainer in Diensten des Leistungszentrums Solothurn. «Für die sieben regionalen Zentren ist es der wichtigste Wettkampf des Jahres», findet der Rumäne. Schade nur, dass die Solothurner ihre Rolle als Spielverderber beim ewigen Duell Zürich gegen Aargau heuer nicht wahrnehmen können. Nach den Rücktritten von Nils Haller und Simon Nützi und wegen der Verletzung von Benjamin Gischard fehlt Pascu nahezu das komplette Tafelsilber.

«Wir haben uns jeweils schon Tage vor dem Anlass im Training in Magglingen gegenseitig gefoppt», erinnert sich Mark Ramseier an seine Zeit als Captain der Nationalmannschaft. «Und danach bekamen die Verlierer entsprechend Sprüche zu hören.» Ramseier war massgeblich an sieben Aargauer Titeln beteiligt. Diesmal verantwortet er als Wettkampfleiter die korrekte Abwicklung des turnerischen Programms. «Es ist schon speziell, wenn man als Athlet auf einmal Fangesänge der einzelnen Kantone hört.»

Er erinnert sich auch an die einmalige Aktion im Jahr 2012, als nicht die erste, sondern die zweite Mannschaft der Aargauer den Titel gewann. Um die offizielle Reihenfolge der Geräte zu umgehen, teilte der Coach die besten Turner ins «Zwei» ein. Auch solche Nervenspiele gehören bei der Team-SM dazu, selbst wenn es die Aargauer damals auf die Spitze trieben.

Die Weltmeisterschaft steht vor der Tür

Für die Athleten bedeutet der Wettkampf rund einen Monat, bevor es an der Weltmeisterschaft in Glasgow um die Wurst, respektive um die Qualifikation für die Olympischen Spiele 2016 in Rio geht, eine ganz andere Art von Druck. «Man freut sich immer wieder speziell auf diesen Anlass», sagt Nationalkaderturner Oliver Hegi. «Die Aufgabe ist in der Schweiz einzigartig und die Stimmung im Publikum geil.»

Kommt hinzu, dass in Lenzburg WM-Teilnehmer und Nachwuchshoffnungen in den gleichen Farben einen gemeinsamen Teamgeist entwickeln. Egal ob Trainer, Ehemalige oder Aktive, alle sprechen davon, dass das eigene Team auf jeden Fall «kämpfen» werde. Als wäre die Aufgabe ein Boxduell im Ring.

Zurück zum Ausgang des Wettkampfs mit dem Duell «Zuwenig Hirn» gegen «Achtung Gefahr». Die Zürcher verstehen es, dem ewigen Rivalen gleich am ersten Gerät den Wind aus den Segeln zu nehmen. Entsprechend nivelliert sich der Lärmpegel im Publikum gegen unten. Doch nach den Ringen kehren die Platzherren das «Spiel», angeführt vom Jüngsten im Team, EM-Silbermedaillengewinner Christian Baumann.

Die Barrenübung des 20-Jährigen verdient sich mit tollen 15,700 die höchste Note des Abends. Als einzelner Athlet steht er an diesem Abend über allen anderen. Doch das allein ist an der Team-SM eben nicht gefragt. Nach vier von sechs Geräten steht es quasi Unentschieden. Nach fünf Durchgängen auch. Dann das Drama: Ausgerechnet der Zürcher in Diensten des Aargauer Männerteams, Michael Meier aus Obfelden, muss seine Bodenübung nach einem Sturz abbrechen. Zürich gewinnt – in der Höhle des Löwen. Und ein Zürcher ist untröstlich.