Eidgenössisches Turnfest
Tausend Selfies und eine Spinne – mit Giulia Steingruber am Turnfest

Giulia Steingruber ist am Eidgenössischen Turnfest in Aarau ein gefragter Star – die 25-jährige Kunstturnerin sagt aber auch: «Ich bin manchmal lieber im Hintergrund. Einfach die private Giulia.»

Martin Probst
Drucken
Giulia Steingruber besucht das Eidgenössische Turnfest in Aarau.

Giulia Steingruber besucht das Eidgenössische Turnfest in Aarau.

SEVERIN BIGLER

Wo sie ist, wird sie erkannt. Giulia Steingruber ist die beste Turnerin der Schweiz und an einem Eidgenössischen Turnfest somit so etwas wie die Königin. Doch in diesem Moment unterscheidet sie sich nicht von vielen anderen Turnerinnen und Turnern. Als sie fürs Foto posiert und eine kleine Spinne entdeckt, springt sie zurück, kreischt kurz und sagt lachend: «Da kann ich nicht stehen.»

30 Prozent der Schweizer Bevölkerung, bei den Frauen sogar bis zu 50 Prozent, haben laut Schätzungen eine mehr oder weniger ausgeprägte Angst vor Spinnen. Giulia Steingruber gehört dazu.

Kurze Zeit später ist die Spinne weg und Steingruber lacht in die Kamera. Vor dem Zelt im Aarauer Schachen bleiben die Turnerinnen und Turner stehen und tuscheln: «Das ist sie. Das ist Giulia Steingruber.»

Für Steingruber ist das normal. Besonders an Turnfesten, da, wo die Basis turnt. Für die Schweizer Turnszene sind die besten Kunstturnerinnen und Kunstturner die Vorzeigeathleten. Eine Stunde lang haben Steingruber, Turnfestsiegerin Ilaria Käslin, Turnfestsieger Oliver Hegi und weitere aus dem Nationalkader Autogrammwünsche erfüllt und für Selfies posiert. Das beliebteste Foto? Natürlich jenes mit Steingruber. Obwohl sie in Aarau nicht turnt.

Nicht das Ende

Steingruber ist die erfolgreichste Kunstturnerin der Schweizer Sportgeschichte. Sie ist fünffache Europameisterin, hat 2017 an der WM und 2016 an den Olympischen Spielen Bronze im Sprung gewonnen. Doch im Juli 2018 zog sie sich einen Kreuzbandriss zu. Für eine 24-Jährige, die einen Sport betreibt, der für den Körper so brutal belastend ist, kann das das Ende sein. Doch Steingruber entschied, dass diese Verletzung nicht das Ende ihrer Karriere sein kann.

Giulia Steingruber an der Olympischen Spielen in Rio. Die Doppel-Europameisterin vor der Eröffnung an einem Strand in Rio, gehüllt in eine Schweizer Fahne.
13 Bilder
Selbige darf die Turnerin an der Eröffnungszeremonie für die Schweiz tragen.
Seit Vreni Schneider an den Winterspielen 1992 ist Steingruber die erste Frau, der diese Ehre zukam.
Auch im Sport überzeugt Giulia Steingruber: Sie qualifiziert sich gleich für drei Finals im Kunstturnen.
Im Mehrkampf-Final erreichte sie einen soliden 10. Platz.
In ihrer Paradedisziplin, dem Sprung, gelingt ihr endlich der Medalliengewinn.
Der Moment, als sie ihr grosses Ziel erreichten: Giulia Steingruber und ihr Trainer Zoltan Jordanov während des Sprung-Finals
Mit einer Bronzemedallie ist sie die erste Kunstturnerin der Schweiz, die an den Olympischen Spielen Edelmetall mit nach Hause nimmt.
Die Sprünge auf das Podest tragen die Namen «Tschussowitina» und «Jurtschenko».
Zudem gewinnt Steingruber die erste Olympia-Medaille für den Schweizerischen Turnverband seit dem Olympiasieg von Donghua Li 1996.
Anschliessend wird sie gebührend im House of Switzerland empfangen.
Zwei Tage später: Am Boden stürzt Giulia Steingruber jedoch gleich zwei Mal – und landet damit abgeschlagen auf dem letzten Final-Platz.
Trotz allem kann Steingruber auf sehr erfolgreiche Olympische Spiele zurückblicken.

Giulia Steingruber an der Olympischen Spielen in Rio. Die Doppel-Europameisterin vor der Eröffnung an einem Strand in Rio, gehüllt in eine Schweizer Fahne.

KEYSTONE/PETER KLAUNZER

Nun sitzt die inzwischen 25-Jährige in Aarau in einem Zelt. Eigentlich wollte sie am Eidgenössichen ihr Comeback geben. Doch sie musste passen. Ihr Körper ist noch nicht bereit. Neuer Zeitpunkt für die Rückkehr ins Wettkampfgeschehen ist September. «Es sieht gut aus», sagt sie. Nach Aarau ist Steingruber trotzdem gekommen. Vor ihr stehen Menschen Schlange. Im Zelt ist es heiss.

Die Ostschweizerin nützt eine Autogrammkarte als Fächer. Der Luftzug hilft. Und sie ist Wärme gewohnt. «Im Sommer ist es in der Trainingshalle in Magglingen extrem stickig und heiss. Wir haben keine gute Lüftung oder Klimaanlage», erzählt sie.

Auf Leistung getrimmt

Im Verbandszentrum oberhalb des Bielersees schuftet sie hart. «Erfolg kommt von selbst», schreibt Steingruber in Grossbuchstaben auf ihrer Website. «Wenn man 2000 Stunden im Jahr trainiert.» Für Steingruber ist Magglingen längst ein Zuhause geworden. Die Mitturnerinnen ihre Ersatzfamilie. Seit sie mit sieben Jahren das Kunstturnen entdeckt hat, ist sie Teil der Leistungsstrukturen, die so vieles verlangen und so wenig erlauben.

Wie das Turnerleben in einem Verein ist, weiss sie nicht. Zwar startet Steingruber an Wettkämpfen in der Schweiz für den TV Gossau, wurde für diesen 2013 in Biel Turnfestsiegerin, aber sonst sind die Berührungspunkte klein. «Ich spüre aber, dass sie immer hinter mir stehen, auch wenn ich nicht viel zurückgeben kann bei Anlässen, die sie haben. Ich hoffe, dass ich das irgendwann einmal nachholen kann.»

Sie kann sich zum Beispiel vorstellen, irgendwann nach der Profi-Karriere mit Gossau einen Vereinswettkampf zu bestreiten. «Sehr gut sogar. Turnen wird immer Teil meines Lebens sein. Vielleicht brauche ich zuerst etwas Abstand, aber dann turne ich weiter.»

In Aarau ist die Autogrammstunde zu Ende. Giulia Steingruber ist geschafft. «Es ist eine mega schöne Anerkennung, wenn mich so viele Leute ansprechen. Aber ich bin manchmal lieber etwas im Hintergrund. Einfach die private Giulia und nicht immer nur die Sportler-Giulia.» Schwierig an einem Anlass, wo sie jeder kennt.