Kunstturnen
Schweizer Team baut am Olympia-Mosaik

Der Höhenflug der Schweizer Kunstturner mit fünf EM-Medaillen kommt weder aus heiterem Himmel, noch gibt es dafür eine simple Erklärung. Es sind viele Mosaiksteinchen, welche zum Erfolg beitragen.

Rainer Sommerhalder
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Bernhard Fluck liefert als Cheftrainer der Männer eine formidable Arbeit ab.

Bernhard Fluck liefert als Cheftrainer der Männer eine formidable Arbeit ab.

KEYSTONE

Einzig bei den Frauen hat die Antwort einen Namen: Giulia Steingruber. Dahinter klafft qualitativ eine grössere Lücke und folgt quantitativ eher ein Rinnsal denn ein reissender Fluss. Fünf weitere Athletinnen bilden derzeit mit Steingruber das Nationalkader.

Bei den Männern hingegen thront der Erfolg auf vielen Schultern. 15 Turner sind im Nationalkader – einer mehr als vorgesehen. Ein gutes halbes Dutzend Athleten hat derzeit das Potenzial, in einen EM-Final vorzustossen. Drei Schweizer schafften dies am letzten Wochenende in Montpellier, zwei davon – Pablo Brägger und Christian Baumann – kehrten mit Medaillen heim.

Auf dem Weg nach Rio

Die Europameisterschaften waren für das Schweizer Männerteam nur ein Zwischenhalt mit der Bestätigung, dass der Fahrplan stimmt. Das grosse Ziel heisst Olympische Spiele in Rio de Janeiro. Erstmals seit Barcelona 1992 will die Schweiz im nächsten Jahr wieder mit einer Mannschaft unter den olympischen Ringen turnen. Die Chancen stehen gut.

Ein Platz in den Top 8 an der WM im Herbst in Glasgow bringt die Direktqulifikation. Acht weitere Nationen qualifizieren sich beim olympischen Testwettkampf im kommenden Frühling in Rio. Zum Vergleich: Vor einem Jahr beendete die Schweiz den Team-Mehrkampf an der WM auf dem hervorragenden siebten Platz. 2011, als es letztmals für Olympia zählte, reichte es jedoch nur für Rang 17. «Die Abstände zwischen Rang 6 und 16 sind minim. Im letzten Jahr hätte ein Ausfallschritt eines einzelnen Turners am Boden gereicht und wir wären auf Platz 9 abgerutscht», sagt Bernhard Fluck, seit 2009 Cheftrainer der Männer.

Macht man sich auf die Suche nach den Schweizer Qualitätsfaktoren, dann erfolgt der erste Halt zwingend beim 58-Jährigen aus dem Säuliamt. Er übernahm vor sechs Jahren keine einfache Aufgabe. Die Stimmung im Team war nach einer erneut verpassten Olympia-Qualifikation im Keller, die Kritik am damaligen Trainerteam lautstark. Zudem erlebten viele die Zusammenarbeit zwischen dem nationalen Stützpunkt Magglingen und den regionalen Leistunszentren bisweilen eher als Konkurrenzkampf denn als ein Miteinander.

Zwei Toptrainer aus Frankreich

Heute ist vieles anders. Fluck weiss mit den beiden Franzosen Laurent Tricoire und Laurent Guelzec zwei absolute Toptrainer an der Front beim täglichen Training. Er selber hat viel Zeit und Energie aufgewendet, um für die Turner ein Umfeld zu schaffen, dass ihnen ein solches Gedeihen und letztlich diese Topleistungen erst ermöglichen. «Es wird strukturiert gearbeitet und eindeutig mehr Zeit in die Weitsicht und die Planung investiert», sagt Flucks Vorgesetzter, STV-Leistungssportchef Felix Stingelin.

Die Zusammenarbeit mit den Regionalzentren ist heute deutlich besser. Einerseits zeigt sich der STV trotz Festhalten an der zentralistischen, ganz auf Magglingen fokussierten Struktur, flexibler, wenn es um den idealen Zeitpunkt für den Übertritt der jungen Turner vom «Heimstützpunkt» nach Magglingen geht. Andererseits ist die Qualität der Trainings- und Schulmodelle in den Regionen in den letzten zehn Jahren nochmals massiv gestiegen.

Langfristiges Denken anstatt schneller Erfolg

Dafür brauchte es auch die Erkenntnis, dass der langfristige Aufbau der jungen Sportler Priorität haben muss vor kurzfristigen Erfolgen im Nachwuchsbereich. So schaffte die Schweiz den Sprung zu Olympia in den 2000er-Jahren auch mit der goldenen Generation nicht, welche 2002 an der Junioren-EM den sensationellen zweiten Rang mit der Mannschaft erturnte. «Es ist ein Spagat. Man kann im Kunstturnen kurzfristige Erfolge erreichen und sich die langfristige Entwicklung verbauen», erklärt Stingelin.

Einer der goldenen Generation ist der Aargauer Mark Ramseier. Dessen Abschied aus Magglingen verlief 2011 schmerzvoll. Fluck kündigte den Vertrag mit dem damaligen Captain des Nationalteams zugunsten von nachrückenden, jungen Athleten. Eine unpopuläre, aber im Nachhinein sogar von Ramseier als richtig taxierte Entscheidung.

Ramseier, der heute im Direktorium von Swiss Olympic arbeitet, sieht die Breite und den Konkurrenzkampf im Kader als wichtigen Faktor. «Das hat vorher gefehlt. Wir wussten, dass wir auch ohne im Training ans Limit gehen zu müssen, den Schritt ins EM-Team schaffen würden. Heute kann sich keiner sicher sein.»

Und Fluck ist es zu verdanken, dass diese Konkurrenzsituation fruchtend und nicht belastend wirkt. Wenn er bei den Erfolgskomponenten immer wieder von Vertrauen spricht – vom Vertrauen des Verbandes in die Arbeit der Trainer und vom Vertrauen, welches die Athleten spüren müssen – dann darf das durchaus als Eigenlob verstanden sein.