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Oliver Hegi und Pablo Brägger sind die Aushängeschilder der Schweizer Turner. Beim Eidgenössischen Turnfest in Aarau kämpfen sie um den Festsieg. Da Giulia Steingruber wegen einer Verletzung das Turnfest verpasst, liegt der ganze Fokus auf den beiden Reck-Europameistern.
Eigentlich ist das Feld der Favoriten wirklich breit. Vier Namen fallen immer wieder, wenn es um den Festsieg der Elite-Turner beim Eidgenössischen Turnfest (ETF) in Aarau geht: Eddy Yusof, Christian Baumann, Pablo Brägger und Oliver Hegi. Im Fokus aber stehen vor allem die letzten beiden: Pablo Brägger und Oliver Hegi, die beiden Reck-Europameister der Jahre 2017 und 2018, die Aushängeschilder der Schweizer Turner. «Unsere stärksten Athleten, die rund um die Welt gut sind für ein Diplom und auch bei internationalen Wettkämpfen ein Wörtchen um die Medaillen mitreden», sagt Felix Stingelin, Chef Spitzensport beim Schweizerischen Turnverband (STV).
Der Fokus auf Brägger und Hegi wird verstärkt durch die Absenz von Giulia Steingruber. Die Olympia-Bronzegewinnerin muss aufgrund eines im letzten Sommer erlittenen Kreuzbandrisses passen. Ihr erster öffentlicher Wettkampf soll die Schweizer Meisterschaft Anfang September sein, das grosse Ziel die Weltmeisterschaften Anfang Oktober in Stuttgart.
Natürlich stehen auch für Brägger und Hegi die Weltmeisterschaften ganz zuoberst, vor allem nach der verpatzten EM im April 2019. Aber vom Stellenwert her kommt das Turnfest direkt nach WM und EM. «Das ist der wichtigste Wettkampf, den wir in der Schweiz haben. Im Gegensatz zur jährlich stattfindenden Schweizer Meisterschaft kann man einen Festsieg nur alle sechs Jahre holen», sagt Hegi.
2013 in Biel, da waren die beiden gerade 20 Jahre alt. Brägger wurde Zweiter, Hegi Fünfter. Jetzt duellieren sie sich um den Festsieg. Für beide eine wohl einmalige Chance. Denn in der Geschichte des Eidgenössischen Turnfestes gab es bloss zwei Turner, die sich zweimal den Festsieg sicherten: Turnlegende Jack Günthard, 1957 erster Schweizer Reck-Europameister, und Claudio Capelli, Festsieger 2013 in Biel und 2007 in Frauenfeld.
Dieses Jahr in Aarau liegt der Fokus auf Brägger und Hegi. Wer aber sind die beiden Vorzeigeturner der Nation? Brägger ist bloss drei Monate älter als Hegi – und stets war der Ostschweizer seinem jüngeren Kollegen voraus. Manchmal nur wenige Tage, manchmal trennten sie Jahre in ihrer Entwicklung. Schon mit 14 Jahren lebte Brägger in Magglingen, unweit des nationalen Trainingszentrums der Turner. Als Hegi mit 17 bei derselben Familie einzog, zügelte Brägger ins «Schachenmannhaus», wo die Turner des Nationalteams in einer Art WG zusammenwohnen.
Ab der Junioren-WM 2010 waren sie nicht nur Weggefährten, sondern Teamkollegen. Brägger gewann Bronze im Mehrkampf, Hegi Silber am Pauschenpferd, am Barren und am Reck, zusammen mit anderen Turnern holten sie zuvor schon Team-Silber. Bei der Elite war es wiederum Brägger, der zuerst ins Rampenlicht drängte. In Montpellier 2015 gewann er EM-Bronze am Boden, in Cluj 2017 Gold am Reck – dazwischen Team-Bronze 2016 in Bern.
Hegi liess nicht lange auf sich warten. Nach der Teammedaille in Bern holte der Aargauer 2017 in Rumänien hinter Brägger Reck-Silber, ehe er seinen Reckauftritt 2018 in Glasgow vergoldete und Teamkollege Brägger beerbte. Zugleich sicherte sich Hegi Bronze am Barren und gewann als erster Schweizer seit Ernst Fivian 1959 zwei Medaillen an einer EM.
Dass Hegi länger brauchte, lag auch daran, dass er sich in jungen Jahren oft emotional gehen liess. Verhaute er zu Beginn eines Wettkampfs die Übung an einem Gerät, «war es eigentlich gelaufen», erinnert sich Stingelin. Der Aargauer ist mental gereift. Nicht einfach so, sondern auch dank harter Arbeit. Er hat während Jahren mit einem Sportpsychologen an sich gearbeitet.
Dennoch ist er bis heute weit emotionaler als der coole Brägger. Nach Gold an der EM gehörte Hegi an der WM letzten Herbst in Doha zu den Medaillenanwärtern am Reck. Er scheiterte in der Qualifikation und war danach kaum in der Lage, mit der Presse zu sprechen. Auch Brägger, der an der EM 2018 verletzt passen musste, schaffte an der WM die Qualifikation für den Reck-Final nicht.
Sie beide wollten den Sprung auf die globale Bühne schaffen. Als erste Schweizer seit Dieter Rehm 1999 (Bronze am Sprung) WM-Edelmetall holen – beide scheiterten. «Die Vorbereitung war falsch getimt», sagt Stingelin selbstkritisch, «sie hatten beide den Zenit schon vor der WM erreicht.» Das lag auch daran, dass letztes Jahr die EM ausnahmsweise nicht im Frühling (April), sondern erst im August im Rahmen der erstmals durchgeführten European Championships stattfand. «Die zwei Monate bis zur WM waren zu kurz, um ganz runter- und wieder raufzufahren, aber zu lang, um voll durchzuziehen. Wir haben die Mischung nicht gefunden», so Stingelin selbstkritisch.
Schon dieses Jahr können sie es besser machen. Doch vor der WM kommt das Turnfest, das Duell der Vorzeigeturner. Sie sind zwar Konkurrenten, aber auch Kollegen. Oder in Hegis Worten: «Wir können uns gegenseitig im Training anspornen und so von der Konkurrenz profitieren, das hilft schon enorm, denn jeder will natürlich der Bessere sein.» Sie würden sich gegenseitig zwar als Freunde bezeichnen.
Aber die Freundschaft hat ihre Grenzen. So wie das halt ist bei Spitzensportlern. Am ehesten könnte man ihr Verhältnis mit jenem der Skifahrerinnen Wendy Holdener und Michelle Gisin vergleichen. Sie kennen sich seit Jahren, duellieren sich genauso lange, und irgendwann begannen sie zusammen zu trainieren, sich zu pushen, Grenzen zu sprengen. Das ist schon deutlich mehr als eine Zweckgemeinschaft.
Für den Verband sind sie in erster Linie ein Glücksfall. Denn nicht zuletzt dank den Erfolgen der Spitzenturnerinnen und Spitzenturner konnte man den Mitgliederschwund stoppen. Und in Aarau können die Kinder ihre Idole hautnah erleben. Nicht nur an den Geräten, sondern auch bei diversen Autogrammstunden.
«Vor sechs Jahren hatte ich noch nicht so viele Termine ausserhalb des Wettkampfs», erinnert sich Hegi. Der Erfolg hat auch eine Kehrseite. Trotzdem sagt er: «Es wird sicher auch dieses Jahr einige Zeitfenster geben, in denen ich das Fest einfach geniessen kann.» Mit Freunden und Familie. Als wäre er ein ganz normaler Turner.