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Die neue Saison der National Football League (NFL) hat begonnen – die Debatten rund um American Football drehen sich aber nicht nur um den milliardenschweren Sport, sondern auch um Rassismus und soziales Ungleichgewicht.
Eine Frau im Hotellift bewusstlos schlagen: zwei Spielsperren. Eine Uber-Fahrerin sexuell belästigen: vier Spielesperren. Bei der Nationalhymne nicht aufrecht stehen: ebenfalls vier Spielesperren.
Nein, das ist kein Skript der satirischen TV-Sendung «South Park», sondern bittere Realität in der NFL. Es ist die Geschichte einer Liga, welcher der Bezug zur Realität abhandengekommen ist. Sie beginnt 2016, als sich Spielmacher Colin Kaepernick vor den Spielen seiner San Francisco 49ers hinkniet. Immer dann, wenn die US-Nationalhymne gespielt wird. Der heute 30-Jährige protestierte damit gegen die wachsende Ungleichheit im Land, gegen Polizeigewalt an Minderheiten, gegen den grassierenden Alltagsrassismus in den USA.
Man würde denken, es sei einem Menschen unbenommen ein Knie am Boden zu belassen – zumal im «Land of the Free». Aber mit der Freiheit ist es in den USA so weit nicht. Das Land ist so seltsam fixiert auf Hymnen, Flaggen, Patriotismus und Pathos, dass sich eine Kontroverse entzündete, die bis heute anhält. Kaepernick wurde zu einer Art Ikone der Bürgerrechtsbewegung. Doch es gab wütende Menschen, die seine Trikots verbrannten. Donald Trump, der irrlichternde US-Präsident, nannte Kaepernick in einer Wahlkampfrede indirekt einen «Hurensohn».
Kaepernick hat letztmals am 1. Januar 2017 eine NFL-Partie bestritten, er ist seit fast zwei Jahren ohne Job; eine Rückkehr in die Liga ist praktisch ausgeschlossen. Der Quarterback geht juristisch dagegen vor, er wirft den NFL-Teams vor, dass er seiner politischen Ansichten wegen diskriminiert wird. Der Fall wird bald vor Gericht verhandelt werden, die Liga könnte zu Schadenersatzzahlungen verdonnert werden.
Kaepernick mag nicht mehr Teil der NFL sein, aber sein Vermächtnis lebt weiter. Am Montag stellte der US-Sportartikelhersteller Nike ihn als das Gesicht einer riesigen Werbekampagne vor. Der Slogan lautet: «Stehe für etwas ein. Auch wenn du dafür alles opfern musst.» Die Resonanz war enorm und vor allem positiv – aber nicht nur: Auf «Twitter» posteten verärgerte Konsumenten, wie sie ihre Nike-Schuhe verbrannten.
First the @NFL forces me to choose between my favorite sport and my country. I chose country. Then @Nike forces me to choose between my favorite shoes and my country. Since when did the American Flag and the National Anthem become offensive? pic.twitter.com/4CVQdTHUH4
— Sean Clancy (@sclancy79) 3. September 2018
Es ist gerade schwierig, stärker zu polarisieren als Kaepernick. Und auch wenn er nie mehr eine NFL-Partie bestreiten wird, so diktiert er zu einem gewissen Grad doch die Agenda der Liga. Im Mai entschied sich die NFL zum Kniefall vor Präsident Trump. Dieser hatte einmal gesagt, Spieler, die sich nicht erheben, sollten des Landes verwiesen werden. Die NFL sprach deshalb ein Verbot für Proteste während der Nationalhymne aus: Wer sich auf dem Feld niederkniet, kann belangt werden.
Die Miami Dolphins schrieben danach intern fest, dass für vier Spiele gesperrt wird, wer das Knieabstützt – ehe sie den Passus nachheftigen Protesten sistieren mussten.Die «USA Today» schrieb, die neue Regelung sei so undemokratisch und repressiv, dass sie «Diktatoren stolz machen würde».
Die Liga umfasst 32 Teams, die zusammengerechnet fast 75 Milliarden Dollar wert sind. Die Kräfteverhältnisse sind so ungleich verteilt wie im normalen Leben: 30 von 32 Klubs befinden sich im Besitz von schwerreichen weissen Männern. Die Ausnahmen sind die Jacksonville Jaguars, die vom gebürtigen Pakistani Shahid Khan, dem auch der Premier-League-Klub Fulham gehört, kontrolliert werden. Sowie die BuffaloBills, wo die in Südkorea geborene Kim Pegula Mehrheitseignerin ist – wenn auch zusammen mit ihrem (weissen) Mann Terry.
Auch die leitenden Positionen sind fast ausschliesslich mit Weissen besetzt: Nur drei General Manager sind schwarz. Und lediglich acht Cheftrainer. Die Diskrepanz ist so gross, dass die Liga 2003 die «Rooney rule» eingeführt hat, die vorschreibt, dass bei einer Vakanz zumindest ein Kandidat einer ethnischen Minderheit interviewt werden muss. Allzu oft geschieht das jedoch nur pro Forma; manche Kandidaten lehnten Gespräche sogar schon ab, weil sie um ihre Chancenlosigkeit wussten und sich für die simple Pflichterfüllung nicht zur Verfügung stellen wollten.
Die NFL wird von alten, reichen, weissen Männern regiert. So wie die USA von alten, reichen, weissen Männern kontrolliert werden. Aber in beiden Gesellschaftsteilen geht es nun mal nicht ohne die unterprivilegierten Menschen. Mehr als 70 Prozent der NFL-Profis sind schwarz. Ohne sie gibt es kein American Football. Aber die NFL hat mit ihrem Entscheid vom Frühjahr deutlich signalisiert, dass sie in diesem Milliardengeschäft nur als moderne Gladiatoren geduldet werden.
Und nicht als mündige Partner, die eine Meinung haben und diese offen vertreten. So wie manche der Teambesitzer das tun: Acht aus ihrer Gilde spendeten Trump im Präsidentschaftswahlkampf substanzielle Summen, darunter Robert Kraft, der Eigentümer der New England Patriots, der dem als Besitzer eines Footballteams einst krachend gescheiterten Trump (die New Jersey Generals in den 1980er Jahren) eine Million Dollar zukommen liess.
Die Spielergewerkschaft NFLPA hat inzwischen ein Moratorium für das Protest-Verbot erwirkt, es war nicht in Kraft, als in der Nacht auf Freitag der Superbowl-Champion Philadelphia Eagles gegen die Atlanta Falcons (18:12) angetreten war. Proteste während der Landeshymne blieben aus. Die Parteien verhandeln über einen Kompromiss, aber der Schaden ist ohnehinangerichtet – die Fronten sind verhärteter denn je. In Pennsylvania musste vor ein paar Tagen ein Mitglied der Republikanischen Partei zurücktreten, nachdem sie niederkniende schwarze NFL-Spieler als «Paviane» bezeichnet hatte.
Einmal mehr wirkt die NFL, dieser bizarre Zirkus, wie die Projektionsfläche eines zerrütteten Landes. Die Liste der Probleme der Liga wächst und wächst. Sie führt von Hirnerschütterungen über kriminelle Profis bis hin zu sinkenden Zuschauerzahlen und TV-Ratings. Leidtragender darunter ist in erster Linie der Sport, der manchmal zu einem Nebenschauplatz zu verkommen scheint. Angesichts der Komplexität und Grossartigkeit dieses wilden, rasanten Spiels ist das ein Jammer.