Zum Glück hat Kevin Anderson das Spiel seines Lebens schon gespielt – gegen Andy Murray. Sonst könnte es für Stan Wawrinka im Viertelfinal ungemütlich werden.
Gerade war eine Ass-Rakete mit 218 km/h an Andy Murray vorbeigezischt, die seinen 0:2-Satzrückstand in diesem Achtelfinal am US Open besiegelte, da schoss der 28-jährige Schotte selbst ein ganzes Salven-Arsenal ab. Murray hockte auf seinem Stuhl und schickte die übelsten Beschimpfungen in Richtung seiner Box, in der neben seinem Team um Trainer Jonas Björkman auch seine Mutter Judy und der Fussballstar Frank Lampard sassen.
Unter Trainerin Amelie Mauresmo, die gerade Baby-Pause macht, waren solche Wut-Ausbrüche passé, doch mitunter hatte es Murray auch gutgetan, den Ärger rauszulassen. An diesem Tag half es aber nur bedingt. Besonders, da Kevin Anderson den Match seines Lebens spielte und den 4:18 Stunden dauernden, packenden Marathon mit 7:6, 6:3, 6:7 und 7:6 ins Ziel brachte – das letzte Tiebreak gewann der Underdog sogar zu null.
Anderson konnte sein Glück kaum fassen. Sieben Mal war der 29-jährige Südafrikaner zuvor in Major-Achtelfinals gescheitert – jeweils gegen Top-Ten-Spieler – nun hatte er den Fluch endlich gebrochen. «Mir fehlen gerade die Worte», sagte der schüchterne und so harmlos wirkende 2,03 m grosse Hüne, «das war eines meiner besten Spiele im Leben. Und endlich habe ich es geschafft, das Ding durchzuziehen.» Das war vielleicht bisher das Problem des Spätstarters, der zunächst an der Universität von Illinois Tennis spielte und erst mit 21 Jahren auf die Profi-Tour kam. Denn in den entscheidenden Momenten versagten Anderson meist die Nerven.
Wie zuletzt im Achtelfinal von Wimbledon, als er furios gegen Novak Djokovic mit 2:0 in den Sätzen führte und doch noch verlor. «Ich habe nach dem dritten Satz gegen Murray tatsächlich daran gedacht», sagte Anderson, der ein Déjà-vu befürchten musste, «aber ich habe mich darauf konzentriert, was ich in dem Match damals gut gemacht hatte. Dieses Mal liess ich nicht locker und habe einen tollen vierten Satz gespielt.»
Und das war nicht einfach, denn Murray hatte die 10 000 Fans im Stadion inzwischen mit seiner wilden Aufholjagd ganz auf seine Seite gezogen. Hätten sie gewusst, dass Anderson seit zehn Jahren in den USA lebt und mit einer Amerikanerin verheiratet ist, hätten sie wohl ihn angefeuert. Doch der Weltranglisten-15. zog aus der tosenden Stimmung trotzdem seine Energie, hämmerte 25 Asse und 81 Winner ins Feld. Murray unterliefen lediglich 20 leichte Fehler, ein beachtlicher Wert. Doch es half ihm nicht, denn Anderson untermauerte, dass er weit mehr als ein blosser Aufschlagspezialist ist. Er variierte und passierte hervorragend von der Grundlinie und blieb seiner Taktik konsequent treu. «Ich arbeite inzwischen mit einem Sportpsychologen», erklärte Anderson, «auf diesem Level geht es um so feine Details. Ich fühle mich jetzt viel wohler in den wichtigen Momenten.»
So hatte er im Vorfeld in WinstonSalem nach sieben verlorenen Finals in Folge erstmals seit drei Jahren wieder einen Titel gewonnen. Und nun steht Anderson als erster Südafrikaner seit Wayne Ferreira 1992 im Viertelfinal von New York, seit 1980 war keiner mehr in der Runde der letzten vier gewesen. Dazu müsste Anderson heute Stan Wawrinka bezwingen, wie er es in den vier Duellen zuvor schon getan hatte. «Klar, zuletzt hat es ganz gut für mich gegen Stan geklappt», sagte der Hüne, «aber es war immer eng und ich erwarte wieder ein schweres Match.» Besonders vor den späten Erfolgen des 30-jährigen Lausanners der vergangenen zwei Jahre Paris hat Anderson grossen Respekt. Da haben sie etwas gemeinsam. «Ich bin auch ein Spätstarter», sagte der Südafrikaner, «aber ich verbessere mich auch immer noch weiter. Da ist noch Luft nach oben.»