Australian Open
Vor dem Duell gegen Djokovic in Melbourne: Roger Federer und die Zahlen des Grauens

Roger Federer trifft in den Halbfinals der Australian Open nicht nur auf seinen Rivalen Novak Djokovic, sondern auch auf seine Dämonen der Vergangenheit. Auch in Melbourne spricht fast jede Zahl gegen ihn.

Simon Häring
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Roger Federer trifft bei den Australian Open auf Novak Djokovic.

Roger Federer trifft bei den Australian Open auf Novak Djokovic.

Keystone

Schon zum 15. Mal steht Roger Federer in den Halbfinals der Australian Open, doch noch nie war der Weg dorthin so erdauert, so erlitten, und so erkämpft wie in diesem Jahr.

12 Stunden und 4 Minuten stand der 38-Jährige auf dem Tennisplatz, dabei wendete Federer mehr als einmal das Unabwendbare, das Ausscheiden, noch ab. Gegen John Millman gewann er im Tiebreak des fünften Satzes sechs Punkte in Folge, und sagte danach:

Ich habe im Kopf schon begonnen, meine Niederlage zu erklären.

Gegen Tennys Sandgren machte ihm eine Verletzung in der Leistengegend zu schaffen. Federer kämpfte - mit dem Gegner, mit sich, mit dem Körper. Und er schaffte eine Wende, die er als mirakulös bezeichnete: Sieben Matchbälle wehrte ab, und gestand danach: «Ich verdiene diesen Sieg nicht. Eigentlich sah ich mich schon beim Ski fahren in der Schweiz.»

Stattdessen misst er sich in den Halbfinals der Australian Open zum 50. Mal mit seinem Rivalen, Novak Djokovic. Drei Mal verlor Federer bei einem Grand-Slam-Turnier gegen den Serben noch ein Spiel, in dem er zwei Matchbälle hatte - 2010 und 2011 in den Halbfinals der US Open, im letzten Jahr im Wimbledon-Final. Es sind Dämonen, die ihn bis heute verfolgen. Und es gibt nur wenig, das dem Schweizer Mut machen könnte, schon gar nicht ein Blick in die Zahlen einer Rivalität, die längst zu einem Klassiker geworden ist. Federer verlor die Mehrzahl der Duelle: 23:26. Keine Begegnung gab es bei den vier Grand-Slam-Turnieren öfters als jene zwischen Federer und Djokovic. Seit den US Open 2010 verlor Federer neun der elf Duelle bei Major-Turnieren, vier Mal in einem Final. 10 von 16 Spielen gewann der Serbe, darunter die letzten 5. Federers letzter Sieg datiert vom 6. Juli 2012, dem Wimbledon-Halbfinal. 2763 Tage ist das her.

Wo immer man auch sucht, man findet kaum Argumente, die für Federer sprechen. Federer sagt, was er immer sagt, wenn er nach dem Schlüssel für den Sieg gegen Djokovic gefragt wird:

Ich muss am Limit spielen, ein gewisses Risiko eingehen, den richtigen Mix finden, aber auch befreit aufspielen. Zudem muss ich gut aufschlagen.

So, wie er das Ende des letzten Jahres in London getan hat, als er Djokovic zum ersten Mal seit vier Jahren bezwingen konnte. Stimmt das Rezept? Federer sagt ja. Ein Blick in die Zahlen sagt nein. Djokovic machte bisher im Prinzip alles besser. Er schlug mehr Asse (59:51), obwohl er vier Sätze weniger spielte. Seine Gegner brachten deutlich weniger seiner Aufschläge zurück als jene Federers (39 Prozent gegenüber 31 Prozent). Federers kleiner Vorteil am Netz (73 Prozent gewonnene Punkte gegenüber 72 Prozent) macht die Nachteile an der Grundlinie nicht wett. Während der Serbe 56 Prozent dieser Ballwechsel gewann, sind es bei Federer nur 50 Prozent.

Kurze Ballwechsel, mittellange Ballwechsel, lange Ballwechsel – egal, wo man einen Strohhalm sucht, an dem sich Federer klammern könnte, die Antwort bleibt die gleiche: es gibt ihn nicht. Vielleicht, dass Federer mehr Breakchancen abgewehrt hat (24:6)? Geschenkt. Denn er liess auch mehr als drei Mal so viele Chancen zu (35:11). Dass er mehr Aufschläge seiner Gegner im Feld unterbringen konnte (73:72 Prozent)? Geschenk. Denn Djokovic traf auf deutlich bessere Aufschläger als Federer, zum Beispiel auf den Kanadier Milos Raonic, dem bei den Australian Open 100 Asse gelangen, mehr als jedem anderen. Selbst in Federers Paradedisziplin, den kurzen Ballwechseln, steht er im übergrossen Schatten Djokovics. Federer gewann 55 Prozent der Ballwechsel mit maximal vier Ballberührungen, Djokovics Wert liegt um satte 4 Prozentpunkte höher. Ganz egal, wo er hinschaut: Für Federer sind das alles Zahlen des Grauens.

Doch Tennis ist und bleibt ein Spiel, das im Wesentlichen auf Intuition basiert. Oft gewinnt nicht derjenige, der über das bessere Schlagarsenal verfügt, sondern derjenige, der es schafft, zu improvisieren, Gegner und Spiel zu lesen und Hindernisse zu überwinden. Und vielleicht ist Roger Federers Rezept gegen Djokovic genau deshalb doch das richtige: auf den Platz gehen, auf seine Stärken setzen, sich von Zahlen und Rekorden, von Schlagzeilen und Eventualitäten nicht von seinem Weg abbringen lassen, und bis zum letzten Schlag, bis zum letzten Punkt auf das zu vertrauen, was einem zum Sieger gemacht hat. Keiner tut das mehr als Federer. Als er nach seinem Halbfinal-Einzug gefragt wurde, ob er daran glaube, noch ein Spiel, ja vielleicht sogar noch zwei und damit auch das Turnier gewinnen zu können, sagte er: «Ja, natürlich tue ich das. Erst, wenn ich meinem Gegner am Netz die Hand schüttle, ist es vorbei. Vorher nicht.»