Während 25 Jahren verkörperte Nicola Spirig Triathlon-Weltklasse, Ende Saison tritt sie zurück. Es ist das Ende eines Modells, das in der Schweiz im Sport und in der Gesellschaft noch Seltenheitswert hat.
Nicola Spirig ist 40 Jahre alt, dreifache Mutter und hat im Triathlon alles erreicht: Olympiasiegerin 2012 in London, Silber vier Jahre später in Rio de Janeiro, dazu drei weitere Diplome, zuletzt als Sechste in Tokio. Sie wurde sieben Mal Europameisterin und ist mehrfache Weltmeisterin. Während über 25 Jahren verkörperte die Zürcherin Triathlon-Weltklasse. Sie sagt: «Ich hätte nicht mal zu träumen gewagt, dass ich meine Karriere so lange auf so hohem Niveau fortführen kann, und bin unendlich dankbar, dass ich so viel Schönes erleben durfte.» Ende Saison tritt Nicola Spirig zurück.
Aus dem Nichts kam die Ankündigung nicht. Zwar stand der Sport immer im Zentrum, ihr einziger Lebensinhalt war er aber nie. Spirig ist Mutter von drei Kindern, den Buben Yannis und Alexis und Tochter Malea, sie studierte Recht, hat eine Stiftung, die Kinder für den Sport begeistern will, und ist Initiatorin und Namensgeberin einer Triathlon-Serie für Kinder, deren Geschicke ihr Mann Reto Hug, ein ehemaliger Spitzentriathlet, leitet.
Wehmut schwingt kaum mit, viel zu sehr ist Spirig eine Pragmatikerin, die ihre Entscheide nicht nur aus dem Bauch heraus trifft, sondern stets darum bemüht ist, ihr Leben in perfekter Balance zu halten. Schon 2012, nach ihrem Olympiasieg in London, war der Rücktritt ein Thema. Nicht weil sie befürchtete, die Motivation zu verlieren, sondern weil sie eine Familie gründen wollte. «Ich fragte mich: Will und kann ich dann weitermachen?», sagt Spirig zehn Jahre später. Sie tat es – und eilte von Erfolg zu Erfolg. «Ich bin froh, haben wir uns damals dazu entschlossen weiterzumachen.»
Wir – Nicola Spirig benutzt dieses Wort oft. Denn ohne ihre Eltern, ihren langjährigen Trainer Brett Sutton, Sponsoren, die sie teilweise begleiten, seit sie 13 Jahre alt ist, wäre ihre Karriere nicht möglich gewesen. Und vor allem nicht ohne ihn: den ehemaligen Triathleten Reto Hug, der selber Europameister, Vizeweltmeister und dreifacher Olympiateilnehmer ist.
Spirig und Hug leben seit Jahren ein Modell, das nicht nur im Schweizer Sport, sondern in der Gesellschaft Seltenheitswert hat: Sie bestreitet den Lebensunterhalt, er ist Hausmann. Nur in fünf Prozent der Paarhaushalte ist der Mann hauptsächlich für Hausarbeit und Kinderbetreuung zuständig. Hug sagt: «Nicola bringt das Geld nach Hause, und ich schaue, dass es für uns als Familie stimmt.» Es gebe nicht viele Frauen im Sport, die finanziell für ihre Familien sorgen könnten, sagt Spirig. Sie hat nicht nur als Sportlerin Meilensteine gesetzt, sondern dient auch als Vorbild für Frauen, die Kinder wollen und gleichzeitig Ambitionen im Beruf haben.
Der Rücktritt vom Spitzensport steht am Ende eines Prozesses, an dem auch ihr langjähriger Trainer, Brett Sutton, beteiligt war. Dieser hatte Spirig zuvor gesagt, sie könne auch im Alter von 50 Jahren noch mithalten und an den Olympischen Spielen 2024 in Paris eine Medaille gewinnen. Dazu wird es nicht kommen. «Die finale Entscheidung fiel, als ich in einem langen E-Mail an Brett Gründe auflistete, die für den Rücktritt sprechen», sagt Spirig. Das ist erstaunlich abgeklärt – und passt: Als die Gründe, die dafür sprachen, überwogen, zog sie einen Schlussstrich. Pragmatisch, ohne Wehmut.
Den Spitzensport betrieb und betreibt Spirig bis zuletzt mit Leidenschaft. «Deshalb werde ich es natürlich auch vermissen», sagt sie. Am Sonntag beginnt ihre letzte Saison mit dem Zürich-Marathon. Bereits am Dienstag fliegt sie ins Trainingslager nach Gran Canaria. Und im Juni will sie unter Laborbedingungen als erste Frau einen Ironman (3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren, 42,195 km Laufen) in unter acht Stunden absolvieren. Es ist Nicola Spirigs letzte grosse Herausforderung als Berufssportlerin.
Danach rückt der Wettkampf in den Hintergrund und die Freude an der Bewegung in den Vordergrund. Spirig freut sich auf Skitouren und darauf, nicht nach Plan, sondern nach Lust und Laune Sport zu betreiben. Und auf die Zeit mit der Familie. Tritt eines ihrer Kinder derzeit in die Fussstapfen, die sie hinterlässt? Sie winkt lächelnd ab: «Wir hoffen beide, dass sie einen anderen Sport machen. Denn wenn Mami und Papi so erfolgreich waren, ist das nicht einfach.» Auch hier ist Spirig Vorbild durch und durch.